Das Spiel von Königen und Königinnen: Eine Erzählung in sechs Teilen
Hallo Schachfreunde!!
Bereit für einen neuen Bericht voller Erlebnisse, Erinnerungen, Anekdoten und Analysen? Ja?! Das ist gut. Schon geht’s los.
Noch eines vorab: Dies ist ein seeehr ausführlicher Bericht in sechs Teilen. Jeder Teil kann für sich genommen auch einzeln gelesen werden, jedoch sei der Leser jetzt schon darauf hingewiesen, dass jeder Teil Andeutungen und Anspielungen auf die anderen Teile, auf Erlebnisse während des Turniers, aber auch auf andere von mir verfasste Berichte, enthält. Hier ist ein waches Auge für das Detail gefragt. Das Besondere an diesem Bericht ist allerdings, dass jeder Teilbericht in einem eigenen sprachlichen Stil verfasst ist. Nehmt euch ein bisschen Zeit und taucht ein in die faszinierende Welt der 64 schwarzen und weißen Felder.
Teil 1: A Game of (Chess-)Thrones
Ausgabe 04/2019
Aschaffenburger Schachblatt
Aschaffenburg – 07.04.2019: Den Kampf um den unterfränkischen Schachthron entschied dieses Jahr der SC Obernau mit 17:1 Mannschaftspunkten souverän für sich. Den einen Punkt haben sie gegen die Mannschaft aus Schweinheim abgegeben. Damit haben sich die Ausrichter der diesjährigen UEM quasi schon vorab friedlich getrennt. Der SC Mömbris lieferte den Obernauern in der dritten Runde am 11.11.2018 einen harten Kampf, in dem sie am Ende mit 3.5 – 4.5 unterlegen waren (zugegeben: Die Sache hätte noch deutlicher für Obernau ausgehen können). Ansonsten Stand das Team der Mömbriser mit bis dato 12:4 Mannschaftspunkten relativ sicher auf Platz zwei. Dauerkonkurrent Mainaschaff folgte dicht auf Platz 3.
So war die Meisterschaft vor dem letzten Spieltag am 07.04.2019 für Obernau quasi schon entschieden. Die Obernauer hatten schon vor der letzten Runde nichts mehr zu verlieren, und gewannen nochmals 5-3 gegen Kitzingen II. Der SC Mömbris musste zu Hause nochmal gegen Versbach antreten und gewann auch ohne Probleme mit 6:2.
Hervorzuheben sind auch die besten Spieler der Saison, und tatsächlich stammt der beste Spieler Unterfrankens aus Mömbris! Es ist niemand geringerer als Markus Susallek (wir berichteten), der mit 7.5 aus 9 noch vor Manuela Gerlach-Büdinger (SC Obernau) mit 6.5 aus 8 und Thomas Steinhauser (der Blitzmeister Unterfrankens – wir werden berichtet haben) landete.
Nun zurück zum Mannschaftskampf Mömbris – Versbach. Das war insgesamt ein etwas seltsamer Spieltag, weil bei ungefähr 5 von 8 Partien war die Bewertung nach 10-15 Zügen schon bei +/- 4 (laut dem alten Stockfish). So zum Beispiel an Brett Nr. 2 in der Begegnung Jonathan Simon gegen Sascha Ruslan Schejngeit.
J. Simon – S. R. Schejngeit
Nachdem nach 12. Sfg4! ein Springer – mächtig wie ein geflügelter Pegasus – auf dem Feld g4 gelandet war, sah sich Simon plötzlich einer ganzen Menge unangenehmer Drohungen gegenüber. Vor allem der Bauer f2 ist sehr schwach, außerdem steht der Springer auf d4 sehr ungünstig. Dieser verflixte zwölfte Zug. Der beste Zug wäre nun wahrscheinlich noch 13. Te2!?, aber natürlich ist dann bei Weiß schon ganz schön was schief gelaufen. In der Partie folgte stattdessen 13. Lf4?, was nach 13. …, Sxf2 sofort verlor. Nach 14. Kxf2, Sg4+ 15. Kf3 (denn der Lf4 hängt ja jetzt), Lxf4 16. Kxf4, Dh4 hatte sich der weiße Monarch zu weit an die frische Luft gewagt, kehrte nach seinem Ausflug nicht mehr sicher nach Hause zurück und krepierte alsbald.
J. Simon – S. R. Schejngeit
Marius Böhl indessen remisierte glücklich, nachdem sein Gegner Peter Marx zu viel Angst vor Marius‘ Freibauer hatte. Doch Schach ist ein konkretes Spiel und die Zeit, die gebraucht wurde um den Bauern zu neutralisieren, konnte Marius für eine Remisabwicklung nutzen. Man siehe:
P. Marx – M. Böhl
Es folgte 48. Kc4?, Sf3 49. Kxb4, Sxe5 50. h5, Sg4 mit leichtem Remis. Stattdessen hätte 48. hxg5 einfach gewonnen, denn 48. …, b3 scheitert an 49. f6, b2 und nun einfach 50. Lh7. Der Springer hätte also einfach geschlagen werden können! Was für eine Mähre!
P. Marx – M. Böhl (Variante)
Auch in der Partie Tobias Geiger gegen Markus Susallek entschied ein Patzer die Partie. Auch hier ist ein altes Ross, ein Pegasusspringer gar, auf dem Feld g4 gelandet, und die Dame schielte auch schon heimlich nach h2…
T. Geiger – M. Susallek
Allesdings ist hier die Stellung noch völlig i.O. für Weiß. Er kann z. B. 13. Kh1 (räumt das Feld g1 für den Läufer) spielen mit dynamischen Ausgleich. Geiger griff jedoch fehl und spielte 13. Tf3??, was erstaunlicherweise sofort verlor.
T. Geiger – M. Susallek
Probieren Sie sich gerne selbst an dieser schönen Taktikaufgabe.
Lösung:
Schwarz spielte 13. …, d5! mit der Doppeldrohung …, Dxh2 sowie das versteckte …, e5 nebst …, d4 und Gabel.
T. Geiger – M. Susallek
Teil 2: Die Verwandlung des Boris K.
Als Boris K. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schachspieler verwandelt. Als er die Augen nochmals schloss sah er immer noch Damen, Könige und Bauern vor seinen Lidern kreisen und ihm war als hätte ihm gerade geträumt wie ein einsamer König sich freiwillig in die Gefangenschaft einer fremdländischen Dame begab, worauf sich seine Königin – seltsamerweise verklärt lächelnd und ohne zu zögern – dem Märtyrertod hingab, dabei dem Feinde noch einmal ganz nahe trat, um ihm, bevor sie selig entschlief, noch einen letzten Abschiedskusse zuzuhauchen. „Was ist mit mir geschehen?“, dachte er. Über dem Tisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch mit dem Titel Die Sokolski Eröffnung – der beste erste Zug, die Aprilausgabe des Aschaffenburger Schachblatts und eine Hotelrechnung für eine Nacht in Bangkok lag, hing ein Bild, welches ein riesiges gläsernes Gebäude mit der Aufschrift BW Best Western Plus zeigte. Boris K. runzelte verwundert die Stirn, denn er konnte sich nicht erinnern, dieses Bild schon einmal gesehen zu haben, geschweige denn hier, in seinem Schlafzimmer. Er trat vorsichtig näher und erblicke nach einigem Suchen schließlich am Bildrand in geschwungener feiner Schrift die Bemerkung: Am Kavalleriesand 6, 64295 Darmstadt. Dies alles mutete ihm so seltsam an, dass ein so starkes Gefühl von ihm Besitz ergriff und der Wunsch dieser Sache jetzt sofort auf den Grund zu gehen so unabwendbar wurde, wie der Märtyrertod der Dame in seinem Traum.
Boris fuhr mit seinem Automobil nach Darmstadt an besagte Adresse, fand erst in einem überteuerten Parkhaus einen Parkplatz, und begab sich sodann zu jenem Gebäude. Es war tatsächlich das gleiche Gebäude wie auf dem Bild in seinem Zimmer. Die Innenräumlichkeiten waren nobel gestaltet, der Boden mit roten und blauen Teppichen ausgelegt, über eine Treppe kam er in einen Korridor mit mehreren Türen an den Seiten. Boris zögerte nicht mehr länger und stieß, schon von einer Vorahnung ergriffen, die Tür mit der Aufschrift B-Turnier, DWZ 1900 – 2100, auf.
Er kam in einen großen Saal, in dem zahlreiche Tische in langen Reihen aneinander gestellt waren. An den Tischen saßen sich jeweils zwei Menschen gegenüber, zwischen sich ein Schachbrett mit Figuren. Boris hatte seit Jahren nicht mehr Schach gespielt, dennoch fand er sich plötzlich mit einem intuitiven Verständnis für das Spiel gesegnet. Er bemerkte, dass jedes Brett mit einer Nummer versehen war. Ganz rechts in der ersten Reihe befand sich das Brett Nr. 8, dem er sich näherte. Die Stille hing über dem Saal. Der rote Teppich schluckte alle Geräusche. Boris las auf den Namenschildern bei Brett Nr. 8 Weiß: Jonathan Simon, Elo: 1965, Verein: SC 1928 Mömbris – Schwarz: Martin Kaster, Elo: 2083, Verein: SK Altenkirchen. Nur noch wenige Steine waren auf dem Brett zwischen den beiden zu sehen.
Simon, J. – Kaster, M.
Durch die Verwandlung in einen Schachspieler sah Boris K. auf einen Blick, dass diese Position für Simon leicht gewonnen war. Er müsste nur dem Turmschach nach h6 ausweichen und drohen den Bauern zu verwandeln. Nach einem weiteren Turmschach von h4 könne er mit Te5-h5 intervenieren und der Bauer wäre nicht mehr zu stoppen. Boris wollte sich gerade abwenden, als er noch aus den Augenwinkeln sah, wie Simon seinen König ergriff, einen Zug machte und dann die Schachuhr drückte. Er stockte. Dann drehte er sich um. Simon hatte den König auf das Feld f5 gezogen! Dieser blinzelte und starrte verdutzt auf das Brett vor ihm, ohne den Zug zu notieren. Der Gegner starrte verdutzt auf das Brett vor ihm, ohne den Zug zu notieren. Boris K. starrte verdutzt auf das Brett vor ihm, ohne irgendetwas zu verstehen. Die Sekunden zogen sich hin. Kaster warf Simon einen ungläubigen Blick zu und zog dann seinen Turm auf das Feld g5. Schachmatt.
Verwirrt von dem eben gesehenen zog sich Boris K. zurück, beschloss aber über den Verlauf des drei Tage andauernden Qualifikationsturniers hier zu bleiben und mietete sich ein Zimmer im angeschlossenen Hotel. Zu späterer Stunde, alle Spiele waren schon lange vorbei, begab sich Boris in die Hotelbar auf einen letzten Umtrunk. Er setzte sich an die Bar und bestellte ein Bier. „Ich empfehle dir ja“, sagte gerade der neben ihm Sitzende zu einem Dritten, „das Morra Gambit zu spielen. Da bekommst du, für nur einen Bauern weniger, einen Haufen offene Linien, Angriff und dein Gegner muss immer auf Opfer auf dem Feld e6 oder f7 achten. Letztens erst konnte ich mit einem Läuferopfer auf e6 eine schöne Partie gewinnen“. „Ach, ich weiß nicht“, sagte sein Gegenüber: „Und wenn er den Bauern mit Geduld über fünf Stunden hinweg verteidigt? Dann habe ich im Endspiel einfach einen Bauern weniger“. „Ach was, davor ist er schon längst matt“. Überall Schachspieler, dachte sich Boris K. und konnte die Verwandlung immer noch nicht begreifen. Vielleicht ist morgen ja alles wieder ganz normal, und ich wache in meinem Bett zu Hause auf und bin wieder Bankangestellter in der Revisionsabteilung wie schon seit fast 15 Jahren. Vielleicht war ja alles nur ein Traum, dachte er sich, während sich sein Bier vor ihm langsam leerte.
Am nächsten Morgen, musste Boris K. allerdings feststellen, dass sich nichts geändert hatte. Immer noch war er ein Schachspieler. Also ging er wieder, wie schon am gestrigen Tage in den Turniersaal des B-Turniers und hielt sogleich nach dem Spieler Ausschau, der sich gestern hatte einzügig matt setzen lassen. Er erblickte ihn nun an einem Brett viel weiter hinten als gestern und näherte sich ihm gespannt und mit zusammengepressten Lippen. Diesmal waren erst ein paar Züge gespielt und noch alle Figuren auf dem Brett, während Weiß eine Art Linkspyramide errichtet hatte. Simon war Weiß und sein Gegner war gerade am Zuge. Boris K. ließ seinen Blick schweifen. Und stutzte. War das möglich? Auch am Nebenbrette war Schwarz am Zuge und die Stellung der Figuren war exakt die Gleiche!
Simon, J. – Motzer, H
Behringer, D. – Euler, S.
Alle vier Spieler grinsten und lachten. Die Schwarzspieler überlegten. Die Weißspieler saßen mit verschränkten Armen vor ihren Positionen. „Das ist doch nicht normal“, dachte sich Boris K. einmal mehr. Während sich die Spieler Behringer und Euler aber alsbald quasi vorab friedlich trennten, dauerte die linke Partie noch vielen Stunden an und endete diesmal in einem Sieg Simons.
Nachdem er in einem italienischen Restaurant zu Mittag gegessen hatte, begab er sich auf sich sein Zimmer, wollte sich nur kurz hinlegen, und wachte erst fünf Stunden später wieder auf. Oh je, dachte er sich, wahrscheinlich habe ich jetzt alle Spiele verschlafen. Er raffte sich auf und eilte erneut in den B-Saal. Tatsächlich: Überall standen die Figuren sauber aufgereiht und nur ein/zwei verstreute Seelen waren noch anwesend. Vielleicht gibt es ja noch mehr Räume, dachte sich Boris und ging die Treppe nach unten und einen Korridor entlang. In der Tat fand er bald eine Tür mit der Aufschrift C-Turnier. DWZ 1700 – 1900 und betrat den Raum. Er sah auf den ersten Blick, dass sich eine Art Traube von Menschen um ein Brett gebildet hatte. Ein aufgeregtes Geflüster und Getuschel ging von dieser Menschentraube aus. „Contenance meine Herren, Contenance!“, rief ein bärtiger Herr mit Zylinder. Boris K. näherte sich vorsichtig der Traube. Schließlich konnte er einen Blick auf die Stellung und auf die Namenschilder erhaschen. Mit Weiß spielte Michael Scholz vom SC Mömbris, die schwarzen Steine führte Fin Meinschien, ein junger Bursche von noch keinen 15 Jahren.
Scholz, M. – Meinschien, F.
Boris K. sah, dass Schwarz am Zuge war und vor der Frage stand wie der Bauer zurückzunehmen war. Er könnte entweder 70. …, exf5 oder zunächst 70. …, Tf4+ und dann 71. …, Txf5 spielen. Er entschied sich relativ schnell für ersteres und gewann nach einer wahren Seeschlange von fast 100 Zügen in halbüberzeugender Manier. Niemand der Anwesenden glaubte an weiße Remischancen. Nach dem Ende dieser letzten Partie, nachdem vor den Fenstern schon lange der Vorhang der Nacht gefallen war, nachdem die Partieformulare unterzeichnet, ausgetauscht und abgegeben gewesen waren, nachdem die Helfer alle leeren Flaschen und Gläser eingesammelt hatten und nachdem fast schon alle Anwesenden bis auf Boris K. und dem bärtigen Mann mit dem Zylinder gegangen waren, starrte jener immer noch verwundert auf das Brett und den gefallenen weißen König, den der Weißspieler zum Zeichen seiner Aufgabe umgestoßen hatte und brummte nach einiger Zeit plötzlich in die Stille hinein: „Sehen Sie nur mal an, er ist krepiert; da liegt er, ganz und gar krepiert!“.
Teil 3: Die Raubzüge des Eppelein von Gailingen
Ai, ai ihr Leut kommet. Los kommet! Auf geht’s. Auf du lahme Mähr. Auf! Galopp! Galopp! Gut so, reit‘ als denne schlammiche Wege nach.
Ach ihr Leut, was sind’s noch Zeiten gewese. Vor denne Kreuzzüge. Wie’s Rittergeschlecht der Geylinge noch geblühet hat. Mit eigener Burg mit hohe Grundmauern un Fräuleins un Dienstleut un Felder mit Weize un Raps un achhh der gute alte Weinkeller. Selig der Saft der Trauben! Un nu? Raub un Diebstahl, jawohl. So ist’s g’kommen. Un Fehden über Fehden. Mit denne Nürnbercher Stadtleut un Patrizier. Aber gezeigt hab ich’s denne, jawohl. Selbst heut noch muss ich noch dran denke wie ich mir damals mit Klugheit un mit List ein Kuss von der schöne Agnes Tetzel auf ihr’m eigene Hochzeitsfest gestohle hab. Hehe, da ham’s geschaut die hohen Herren allesamt. Zur Braut nehme wollt ich sie, die hübsche Agnes, aber nein natürlich keine passende Partie für’n Raubritter wie mich sie gewese iss. Aber ich hab’s gleich schon angedroht denne Edelleut un Patritzier un reiche Kaufsleut. Mein Brautkuss hol‘ ich mir doch! Un so hab ich’s auch gemacht. Auf ihrm eigene Hochzeitsfest! Hehe! Langweilig isses net, des Lebe als Raubritter. Galopp!
Aber sehet, seht! Da vorne schon die Stadtmauern von Erlangen aufragen tun. Los tapferes Rösslein. G’schwind! Trag dein Reiter zum Turniere. Ja die nächsten drei Tage mal wieder das schöne Turniere zu Erlangen wird ausgetragen. Von überall her, aus dem ganzen Frankenland, dann wieder strömen die Rittersleut un anneres Gesindl in die Stadt um zu Spiele das Spiel von Königin un Königinnen um zu mehren ihrer Heimatdörfer Ruhm un Ehr. Ach die Burg der Geylinge. Nichts ist mehr gebliebe von. Keine Heimat mehr. Drum ich als freier Ritter am Turniere spiele. Vielleicht iss Caissa mir ja hold un ein paar Gulden Preisgeld für meine Lederbörse springen heraus? Hehehe, mal wieder ehrlich Geld verdient. Das wär was ihr Leut! Ich erinner‘ mich noch ganz genau wie ich früher als Bub gereiset bin mit Vater, dem Sir Konrad, in alle Herren Länder un überall hin im Reiche. Nach Norden, Süden, Westen, Osten. Einmal, es war wohl im Jahre 1338 des Herrn, da sind wir gereiset nach Erfurte hin zum großen Rittersturniere, was immer zwischen Christi Geburt un der Jahreswende stattfand. Ich wart kaum achtzehn geworde un erst ein paar Monate zum Ritter geschlage ja. Das waren selige Zeiten in Erfurte! Rittersleut un Knappen aus dem ganze weite Reich, Marktstände mit heißen Gewürzweine un Kesselgulasch un Dudelsäck un Marktleut un Wirtsstuben mit Schwarzbier un zünftige Rittersspeis un Metzgers- un Bäckerssachen un Feuersstellen mit Rauch, der einem in den Augen beissen tat, . Ach, was war’ns Zeiten!
„Halt! Wer möchte passieren die Stadtmauern zu Erlangen?“, ruft mich ein Wachmann an, als ich endlich die Stadt erreichet hab. „Der Eppelein von Gailingen, Sohn des Sir Konrad aus dem Geschlecht der ehrenwerte Geylinge“, rief ich’s ihm zur Antwort. Da gluckst er über’s Wort „ehrenwert“, winket mich dann aber hindurch un noch im vorbeireiten höre ich ihn lachen. Ich reite mit meinem Rosse durch die Straßen, so viele annere Rösser war’n auf einmal vor mir, dass es gar kein Vorankommen auf denne Strassen gab. Na sowas ihr Leut! In Zukunft möge man es Stauung in den Gassen nennen. Da reite ich g’schwind durch schmale Nebengassen, un komme schließlich an am Turnierhause. Ich weiß noch von frühere Turniere, die ich schon gespielt habe an diesem Orte, dass eine Wirtsstube direkt angeschlossen ist, an den Turniersaale. Da, hört ihr schon mein Magen knurren?! Ich glaub ich ess‘ gleich mal ein paar gebackene Kartoffelschnitzen un dazu vielleicht ein paar Trauben. Das ist nämlich meine Leibspeise, ihr Leut!
Ach, nach diesem guten Mahle un Trunk geht es nu heran an die hölzerne Bretter mit denne 64 Felder un allerhand Offiziere. Seht’s es Losglück iss mir hold, darf ich doch die weissen Steine führen. Mein Gegner ist der ehrwürdige Richard Wörl un ich muss an mein lahme Gaul denke un eröffne mit 1. Ross auf f3. Nach 1. …, Bauer hinvor auf d5 erricht ich so eine Art Linkspyramide.
Eppelein von Gailingen – Wörl, Richard
Doch nu, was machet der Ritter dort? Oh weh seine Rösser kommen mir immer näher. Autschs. Ohweiha. Da springt’s sein Ross nach g4 un drohet zusammen mit seinem Bischoff auf c5 meinen armen Bauersmann auf f2 hinfortzunehmen. Wie ein geflügelter Pegasus es da gelandet is‘, schaut’s euch an!
Eppelein von Gailingen – Wörl, Richard
Na dann müsset das Rosse vom Bischoff geschlagen werden un dann mit dem Turme das Felde f2 gedecket werden. Ach, un nu tauschen sich die Türme auf der Linie. Schon ist’s Endspiel erreichtet. Doch oh weh die Zeit verstreichet so schnelle. Ach, was waren’s früher noch Zeiten, in meiner Jugend, mehr als zwei Stunde Zeit für 40 Züge. Reichlich war’s g’wese. Da konnt man’s überlegen sich was zu ziehen wart. Aber heut! Nein nein, für meine gichtigen Finger iss‘ zu schnell. Oh nein! Nu ist’s passiert! Ich seh’s sofort, wie ich meinen König loslasse, dass jetzt die Königin sich opfern könne, wonach, bei Annahme des Opfers, sein Rosse geschwind würde das Felde der Königin besetzen un dabei Schache zu geben dem König un aufzugabeln meine eig’ne Königin.
Eppelein von Gailingen – Sir Richard
Jetzt hab ich verlorn den Bauern un im Rossendspiel mit Bauern weniger…, es iss‘ fast so schlimms wie’s Bauernendspiel. Jetzt geht’s leicht verlorn. Draussen schon der Vorhang der Nacht gefallen iss‘. Geschwind mein Ross gesattelt un auf durch die Nacht zu meiner Wirtsstube. Durch die Gassen von Erlangen, g’schwind! Auf! Galopp! Galopp! Herrje, wo lang des Weges nu? Am Tage mit Lichte war’s einfach, aber nu? Nur ’s Nachtgestirne die Gassen müde erhellet. Ich habe mich verritten… Ah, da kommt ne Pferdedroschke angefahrn. „Halt, halt!“ „Wo geht’s lang des Weges nach Veitsbronn?“. „Ah, verstehe, bis zur großen Gabelung un dann links des Weges?! Nu gut. Ich danke euch, edler Herr“.
Ah nu endlich angekommen in meiner Wirtsstube. Mein Schlafe wird selig sein… Gähn…
BIM BAM BIM BAM BIM BAM BIM BAM BIM BAM
„Ahhh, was? Wo? Wie?“ BIM BAM BIM BAM „Apokalypse! Weltuntergang! Mir platzen die Ohren!“ BIM BAM BIM BAM „Herrje!“, „Was ist mit mir geschehen?“ BIM BAM BIM BAM „iss nur ’s Glockengeläut. Aber mein Gott. Mitten in der Nacht! ’s Nachtgestirn scheint noch vom Himmel. Treibt’s mich noch in Wahnsinn des Geläut.“ BIM BAM BIM BAM „Ich schwör’s euch, wenn ich jetzt en feuerspeienden Drache hätt‘, ganze Städte würd ich in Schutt un Asche legen“ Endlich iss‘ Ruh. An Schlafe brauche ich jetzt nicht mehr zu denken.
Un nu auf, du alter Gaul! Tageslicht unsere Wege erhellet. G’schwind zurück zur Stadt, zum Turnieresaale, ans Brette. Heute mit den schwarzen Figuren. Ein alter Rittersmann mir gegenüber sitzet. Ah seht, schon zöget er den Königsbauern hinvor auf das Felde e4 un ich erwid’r mit dem Sizialianische Eröffnungszuge Bauer auf c5. Un eh ich mich’s versah da spielt der sein Bauern auf’s d4 Felde. Ein Morragambit! Ohne zu zögern, ich schlag ihn raus. Schon ein Bauern mehr, ihr Leut un ich werd‘ ihn garantiert mit Geduld über fünf Stund‘ hinweg verteidigen, hehe. Ah un nu er versuchtet mit Bauer e5 Vorteil zu erlangen. Den muss ich nehmen! Un die Offiziere tauschen sich, un immer noch hab ich einen Bauern mehr. Auf bis ins Endspiel! Auf! Un nu mein Turme gelangt auf die zweite Reihe, zu machen dem armen Monarchen das Leben schwer, sehet:
Reichel, Rolf – Eppelein von Gailingen
Doch nu, was zieht er da?? Was soll das? Bischoff schlägt meinen Bauern auf e6!? Meint er das ernst? Wie geschieht mir jetzt? Oh wehh…. Klamm’r mich an Cassias Gnade.
Reichel, Rolf – Eppelein von Gailingen
Nu, nu, was bleibet mir’s anners übrig als zu schlagen den Schuft von Bischoff?? Sein‘ Königin schläget un ich weiche nach g7 un, oh wehh, dann schläget er mit seinem Turme auch noch mein Rösslein auf c6. Einen Turme mehr ich jetzt habe, aber mir dünkt er hat’s Remis.
Reichel, Rolf – Eppelein von Gailingen
Hier nu könnt er mit Königin auf e7 un Schache dem König un im nächsten Zuge Turme auf das Felde e5 un die Balance halten. Aber nein, sehet, schon zöget er erst seinen Turme auf e5. Nu aber kann ich mit Königin zurück auf c7 alles absichern un mir gewinnt’s leicht mit Mehrturm. Da war mir Caissa nochmal hold g’wese, ihr Leut!
Am Mittag nu, alle Bäckersstuben schon geschlossen sind. Da kehr ich ein, noch einmal mehr, in’s angeschlossene Wirtshaus un ess‘ ne runde gebackene Teigscheibe mit allerlei Belag obendrauf. Mhh, mundt’s prächtig! Danach wird’s Zeit mein altes Ross zu satteln. Paar Münzen sprangen nich heraus… Was für ein brotloses Handwerk! Zu nichts gebracht hab ich’s in meinem Lebe… Aber der Eppelein, der weiß’s schon wie ’s Lebe gehet un wie er’s am Lebe bleibet. Hehehe! Un nu auf du lahme Mähr! Auf! Galopp! Galopp!
Teil 4: Briefe eines Handlungsreisenden
Aschaffenburg/Schweinheim, Ostersonntag, den 21.04.2019
Linda,
ich bin untröstlich, dass ich über Ostern nicht bei Dir und den Kindern sein kann. Aber Du weißt ja wie es zugeht, Du weißt es ganz genau. Howard rief mich heute früh an… Ein Kunde in Aschaffenburg. Große Geschäftsabschlüsse. „Willy alter Freund, den kannst du doch sicher an Land ziehen“, rief er lachend durch den Telefonhörer. Was hätte ich sagen sollen, Linda? Natürlich musste ich annehmen. Unsichere Zeiten, Du weißt ja… „Für die Unkosten kommt die Firma natürlich auf“, versicherte mir Howard nachhaltig. Habe mich jetzt in ein Hotel namens „Wilder Mann“ eingemietet. Beabsichtige noch die ganze Osterwoche zu bleiben. Am Dienstag sind erste Vorgespräche mit dem Kunden. Ich vermisse die Jungs. Sag, wie geht es Biff? Macht er sich? Natürlich macht er sich! Er hat eine große Zukunft vor sich. Eine große! Hör auf meine Worte Linda. Grüß alle von mir. Ich melde mich. Und frohe Ostern!
Dein
Willy
Aschaffenburg Obernau, Ostermontag, den 22.04.2019
Linda,
war gestern noch in dem angeschlossenen Gasthaus meines Hotels essen und da kam ich mit einem Mann ins Gespräch und er erzählte mir, dass er Schachspieler sei und nun in der Osterwoche an der Unterfränkischen Schacheinzelmeisterschaft teilnehme, welche in Obernau stattfinde. Schach Linda! Weißt Du noch wie ich früher mit Charly bei uns in der Küche gespielt habe? Manchmal die halbe Nacht lang und danach noch Karten und Zigarren dabei geraucht. Und dann als Biff klein war, ich habe ihm die Züge beigebracht. Wie seine Augen geglänzt haben. Weißt du noch? Wie lange ist das jetzt her Linda? 20 Jahre? Haben wir das alte Schachbrett überhaupt noch? Es hatte einen Riss in der Mitte, nicht wahr? Vater hatte es einstmals von einem russischen Händler erworben, wenn ich mich recht erinnere.
Jedenfalls habe ich beschlossen auf diesem Turnier einmal vorbeizuschauen. Die Kundengespräche beginnen ja erst morgen und heute, am Ostermontag, hatte ich sowieso nichts geplant. Das Turnier findet in einer großen Halle statt, welche unmittelbar an einem Waldstück gelegen ist. Es gibt vier Spielklassen. Das Hauptturnier, die Meisterklasse 2, die Meisterklasse 1 und ein Seniorenturnier. Insgesamt spielen 72 Spieler aus dem ganzen Bezirk um den unterfränkischen Schachthron. Es gibt sogar Bretter, auf denen die Züge live im Internet übertragen werden. Aus einem Verein, dem SK 1928 Mömbris, spielen sogar 11 Spieler mit. Ich hörte jemanden munkeln, dass es sogar 12 werden könnten. In der ersten Runde spielt immer die stärkere Hälfte der Spieler gegen die schwächere Hälfte. Da gab es nur wenige Überraschungen. Dennoch, in der M2 verlor der an zwei gesetzte Mömbriser Jonathan Simon gegen Fred Englert (dessen Sohn ist der beste Spieler in der M1, beide vom SK Klingenberg). Ich sprach ihn später darauf an und er meinte, dass die Partie schon nach der Eröffnung verloren war, als er versuchte die gegnerische Dame zu fangen.
Englert, Fred – Simon, Jonathan
Hier wäre schon der knock out möglich gewesen, wenn Englert einfach 13. Sxg5 gezogen hätte und wenn der Bauer f6 zurückschlägt kann die Dame einfach den Läufer auf e6 nehmen. Dieser verflixte zwölfte Zug! Dafür gelang seinem Bruder, Manuel Simon, ein Remis gegen den favorisierten Dieter Krenz (Würzburg). Morgen früh sind die Gespräche mit unserem Kunden. Am Nachmittag werde ich wieder beim Schachturnier vorbeischauen. Bis bald.
Dein
Willy
Obernau (in Aschaffenburg), Dienstag, den 23.04.2019
Linda,
was für ein anstrengender Tag. Die Gespräche zogen sich hin. Ich hoffe ihr seid wohlauf. Sag Biff, dass er für seine Mathearbeit lernen soll, andererseits Bernard wird ihn schon abschreiben lassen, oder nicht? War heute Nachmittag wieder in Obernau und schreibe Dir jetzt diesen Brief während ich vor dem Turniersaal in der Sonne sitze. Einige Festgarnituren wurden hier aufgestellt. Es herrscht eine fast familiäre Atmosphäre hier. Die Mömbriser sind sehr erfolgreich, v.a. in der M2. Michael Scholz und Markus Susallek führen die Tabelle nach drei Runden an. Ich erfreue mich richtig daran diese Truppe von Spielern zu beobachten. Toni Kemmerer (auch Mömbris) hörte ich heute Morgen zu Jonathan sagen „Wohin man sieht, überall sitzen Mömbriser“.
Auch Jonathan gewann heute zweimal, wenn auch einmal glücklich. Ich hörte wie er sich nach der Partie mit Marius unterhielt und letzterer meinte, dass er einfach hätte in das Bauernendspiel abwickeln können und die Stellung wäre leicht gewonnen.
Simon, Jonathan – Buerger, Norbert
Nur wenige Züge später griff Buerger allerdings fehl und spielte auf den Trick … Sd7 statt …, Sh5, was den Bauern unterstützt hätte.
Simon, Jonathan – Buerger, Norbert
Denn dann hätte sich der Läufer für den Bauern opfern müssen und der Springer hätte die beiden Randbauern aufhalten können. Das Highlight war für mich aber die Partie Thomas Vogt (Würzburg) gegen Michael Scholz (Mömbris), wo es letzterem gelang auf vollem Brett einen ganzen Turm zu fangen.
Vogt, Thomas – Scholz, Michael
34. …, Db8! 35. Tc6 und nun 36. Db5! mit tödlichem Abzug …,Th4!! (auf Tc8+ einfach …, Kd7). Chapeau! Das war amüsant anzusehen. Ich habe gar nicht gewusst, dass Schach auch ein humorvolles Spiel ist, Linda. Großartig diese Schachspieler. Ich lege dir mal noch Bilder von zwei der Mömbriser bei. Wenn ich wieder zu Hause bin, spielen wir auch mal wieder Schach. Biff wird sich freuen, meinst du nicht?
Ich schreibe Dir morgen wieder, langsam wird es doch ein bisschen kühl und der Vorhang der Nacht beginnt zu fallen…
Dein
Willy
Obernau, Mittwoch, den 24.04.2019
Linda,
die Gespräche sind geplatzt, die Kunden abgesprungen. Herrje, was bin ich doch für ein Verkäufer. Was für ein brotloses Handwerk! Manchmal, da könnte ich alles und jeden verfluchen. Was für ein Mensch ich doch bin! Da ringt der Teufel mit Gott, und der Kampfplatz sind die Herzen der Menschen. Manchmal möchte ich einfach ganz weit von all dem entfliehen. Ganz weit weg. Z. B. nach Bangkok. Das wär’s doch mal, Linda. Eine Nacht in Bangkok… Aber wart’s ab, wenn ich wieder in meinen Stammbezirk komme. Da kennen mich die Leute, sage ich dir. Da gilt der Name Willy Lohmann noch was! Da bin ich bekannt!
Wenigstens hatte ich jetzt heute den ganzen Tag Zeit beim Schach zuzusehen. Mit jedem Tag erfreue ich mich mehr daran. Nach fünf Runden führt Fabian Englert immer noch ungeschlagen in der M1. Die beiden Mömbriser Markus und Michael sind in der M2 leider wieder abgerutscht heute, auch Jonathan verlor heute Morgen und remisierte am Mittag nur. Dafür lieferte sich Marius Böhl in der M1 einen spannenden Kampf gegen Klaus Link. Lange sah es so aus, als würde es auf das Endspiel Springer + Läufer + König gegen König hinauslaufen. Ich sprach Marius nach der Partie darauf an, und er versicherte mir, dieses Endspiel zu beherrschen (ich lege Dir wieder ein Bild der beiden bei), dennoch patzte er.
Ich habe diese Partie gespannt verfolgt. Alles sah gut aus für Marius. Er hatte einen Freibauern, Läufer und Springer gegen einen Turm. Doch dann unterlief ihm ein schwerer Fehler mit einem voreiligen Bauern.
Link, Klaus – Böhl, Marius
Hier spielte Marius seinen g-Bauern nach vorne. Das war ein Fehler! Danach ging der Turm auf d3 und konnte den Läufer angreifen. Wenn er auf der Diagonale a7-g1 bleibt, so kann er wieder angegriffen werden, verlässt er die Diagonale , kann sich der Turm für den Springer auf e3 opfern und danach wird der König den Bauern g2 schlagen (genauso, wenn der König nach e4 geht um den armen Läufer zu decken).
In der Abendrunde beobachtete ich die Partie von Lutz Sittinger gegen Markus Susallek an Brett 3 der M2. Markus wählte nach 1. e4 den Zug 1. …, c5 und ich ließ mir sagen, dass es sich um die Sizilianische Eröffnung handelte. Ich staunte nicht schlecht, wie Sittinger nach der Eröffnung mit 16. c5! zu einer schönen Kombination kam.
Sittinger, Lutz – Susallek, Markus
Das Problem ist die Fesselung des d-Bauern. Nach 16. …, bxc5 17. bxc5, Sxc5 folgte 18. Sxe6!
Sittinger, Lutz – Susallek, Markus
Sittinger kam so gleich gut in die Partie und gewann auch nach 39 Zügen.
Heute habe ich zwischen den Runden noch einen kleinen Waldspaziergang gemacht. Das war auch sehr schön und gut für meine Nerven. Ich glaube ich bitte Howard um eine Verlegung in den Innendienst, sobald ich wieder zurück bin. Ich werde übrigens – trotz der geplatzten Geschäfte – noch bis zum Ende des Turniers bleiben. Ich möchte doch wissen wie es ausgeht. Fabian Englert führt immer noch ungeschlagen. Grüße die Jungs!
Dein
Willy
Schweinheim, Donnerstag, den 25.04.2019
Linda,
ich bin noch ganz erfüllt von Freude über meine Entdeckung. Aber lass mich alles der Reihe nach erzählen. Du musst wissen, vor jeder Runde spricht der Schiedsrichter oder Turnierleiter oft ein paar kurze Worte. Heute Morgen nun, sprach der Presse- und Medienwart von Unterfranken, Klaus Link, und verlieh den Mömbrisern Auszeichnungen für die beste Homepage des Jahres 2018, sowie für den besten Turnierbericht des Jahres 2018. Einer der Mömbriser hatte nämlich Ende letzten Jahres ein altes Dokument in Frakturschrift gefunden, welches vor ungefähr 800 Jahren von dem Ritter Sir Johann Fritz Simon verfasst wurde, und davon handelte wie er mit seinen Rittersfreunden zu einem Turnier in Erfurt gereist ist. Eine Kopie dieses Schriftstücks hing im Turniersaal aus, und ich war ganz entzückt diese alten Sätze und Zeichen zu lesen. Dieser Sir Johann muss wahrhaft ein Mann gewesen sein! Wahrhaft ein Mann, Linda! Ich war dann natürlich ganz interessiert, ob das Schachspiel im Mittelalter tatsächlich schon so verbreitet war. Da lagen im Turniersaal so einige Bücher aus, die aussahen als wären sie schon im Mittelalter geschrieben worden. Und tatsächlich fand ich dort einen Eintrag über einen gewissen Apollonius von Gailingen, besser bekannt unter dem Namen Eppelein von Gailingen. Er wurde etwa um 1320 geboren, damals noch auf einer eigenen Burg. Da nach den Kreuzzügen das Rittergeschlecht immer mehr an Bedeutung verlor und von der Kaufmannsgilde verdrängt wurde, musste sich der Arme Apollonius sein halbes Leben lang als Raubritter über Wasser halten, wobei er v. a. die Straßen um Nürnberg herum unsicher machte. Er war verhasst bei den Nürnberger Stadtleuten. Einstmals wollte er angeblich die Tochter einer guten Familie ehelichen, was ihm aber verwehrt wurde, wonach er sich auf ihr Hochzeitsfest stahl, laut ausrief, dass der alte Eppelein den Hochzeitszug überfallen habe, wonach alle Bürger nach draußen rannten, er aber riss sich die Kapuze vom Kopf und küsste die Braut und ging, sowohl mit dem Kuss, als auch mit der Beute. Viele Jahre lang lebte er geächtet und als Raubritter. Im Jahre 1375 wurde er schließlich gefasst und zum Tode verurteilt. Er erbat sich einen letzten Wunsch, nämlich noch einmal auf seinem geliebten Pferd, seinem alten Gaul, eine Runde reiten zu dürfen, welches ihm gewährt wurde. Da sattelte er sich auf sein Pferd und rief „Auf! Galopp! Galopp!“ und schon sprang das Pferd über die Menge hinweg und er entkam. Noch heute zeugt angeblich ein Hufabdruck am Fuße der Nürnberger Stadtmauer von dieser spektakulären Flucht. Schließlich wurde er im Jahr 1381 aber doch gefasst, während er in einem Wirtshaus einkehrte und dann hingerichtet. Aber Linda, der hat’s zu was gebracht in seinem Leben! Das war doch mal ein Leben. Raubritter! Geächtet und auf der Flucht. Der hat’s zu was gebracht, das sage ich Dir. Ich lege Dir wieder ein Bild vom ihm bei (eine Zeichnung, wie er mit seinem Gaul entkommen ist).
Nun, jedenfalls zeugte dies alte Büchlein auch davon, wie der Eppelein von Gailingen im Jahr 1369 ein Turnier in Erlangen spielte. Eine Partie von ihm ist sogar noch erhalten. Es war ein Morra Gambit, wo er mit Geduld seinen Mehrbauern verteidigt hatte, dann aber einen Einschlag auf e6 übersah und nur durch Glück die Partie noch gewann. Ich werde diese Partie gleich mal eingeben und dann ins Internet hochladen.
Nun jetzt habe ich aber so viel von dem armen alten Ritter geschrieben, dabei wollte ich doch noch von dem Turniertag berichten. Heute wurde nur eine Runde gespielt, am Nachmittag hatten die Spieler frei bzw. es wurde gegrillt und noch später abends sogar ein Blitz- und ein Pokerturnier gespielt. Michael und Markus aus Mömbris spielten jetzt wieder an Brett 2 und 3, aber nur Michael holte einen halben Punkt und Markus verlor gegen Klaus Oster, eine Partie in der zwischenzeitlich drei Damen im Mittelspiel auf dem Brett waren, während Markus einen Oktopusspringer auf e6 mitten im feindlichen Lager installiert hatte. Jonathan gewann gegen Vereinskollege Florian Voellinger, aber ich hörte sie nachher reden, dass die Position für Voellinger mit +5 zu bewerten war, was auch immer das heißen soll…
Im Hauptturnier machen die Mömbriser sich aber auch richtig gut! Thomas Schnetter gewann nach einem Handy-Fall zwar etwas glücklich, aber Arnold Kraus steht jetzt bei 4 Punkten, gefolgt von Norbert Oster (ein Spieler mit einem langen weißen Bart, der eines Königs würdig wäre) mit 3.5 Punkten jeweils aus 6 Partien. Ich wollte heute Abend in Obernau noch etwas essen gehen, aber habe keine Einkehrmöglichkeit gefunden. Jetzt bin ich wieder im Hotel, habe dort gegessen und schreibe Dir diesen Brief auf meinem Zimmer. Ich muss immerzu an den Eppelein von Gailingen denken…
Dein
Willy
Aschaff Obernau, Samstag, den 27.04.2019
Linda,
das Turnier ist zu Ende. Alles ist rum. Kannst du es glauben? Der Fabian Englert hat das Turnier mit 9 aus 9 gewonnen. Das hat vor ihm nach keiner geschafft! Nicht einmal der Dr. Hofstetter mit seinerzeit 8,5/9. Ich habe alles gespannt verfolgt. V. a. die elf Mömbriser. In der M1 konnten sich Claus Behl und Marius Böhl behaupten und schafften problemlos den Klassenerhalt. In der M2 schafft es die Recken aus Mömbris leider nicht ganz nach vorne, sondern nur auf Plätze im Mittelfeld. Dafür waren sie im Hauptturnier sehr erfolgreich, denn drei der vier Mömbriser schafften den Aufstieg (Platz 8 oder besser). Ich lege Dir wieder ein Bild dieser fröhlichen Truppe bei. Leider waren schon ein paar Spieler abgereist, als das Gruppenfoto gemacht wurde.
Eine letzte Partie muss ich Dir aber noch vorstellen Linda. Ich bin immer noch ganz unter dem Eindruck des Gesehenen. Heute Morgen ging es an Brett Nr. 1 der M2 bei Jonathan Simon nochmal um alles. Er spielte gegen den bisher ungeschlagenen Peter Lutz und es bestand noch eine theoretische (wenn auch sehr unwahrscheinliche) Möglichkeit, dass Jonathan, bei einem Sieg und günstigen Ausgang der anderen Partien, noch den vierten Platz erreichen konnte. Alles sah gut aus. Er erkämpfte sich einen Bauern auf der a-Linie, gab diesen dann und wickelte in ein Damenendspiel mit zwei Mehrbauern ab. Niemand der Anwesenden glaubte an schwarze Remischancen. Doch dann kam es nach vielen Stunden Spielzeit und 45 Zügen zu folgender Stellung.
Simon, Jonathan – Lutz, Peter
Jonathan spielte hier den Zug 46. e6 und ich dachte noch, dass es jetzt leicht gewonnen ist für Weiß, denn nach 46. …, De1+ 47. Kg2, De4+ 48. Kh2 hat Schwarz keine Schachs mehr und es droht ein Matt auf der siebten Reihe. Aber der Gegner hatte einen Trick vorbereitet und spielte á tempo 46. …, Dg2! und Jonathan starrte verdutzt auf das Brett vor ihm, ohne den Zug zu notieren.
Simon, Jonathan – Lutz, Peter
Die Dame muss natürlich geschlagen werden und danach ist die Stellung patt, also unentschieden. Was für eine Endstellung. Der einsame schwarze König hat sich freiwillig in die Gefangenschaft einer fremdländischen Königin begeben. Und die schwarze Königin erst! Als sie langsam von e4 auf das Feld g2 hin schritt, da erschien sie mir wie eine Märtyrerin mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen, die an den feindlichen König ganz nah heran trat, um ihm noch einen letzten Abschiedskusse zuzuhauchen, bevor sie selig entschlief. Fantastisch! Aber schade für Jonathan, denn hätte er gewonnen, so wäre er tatsächlich vierter geworden und damit aufgestiegen. Die unwahrscheinliche Konstellation war tatsächlich eingetreten! Ich sitze jetzt noch draußen auf den Festbänken in der Sonne. Hoffentlich wird auch dieser Sommer wieder schön. Dann unternehmen wir mal wieder was zusammen mit den Kindern. Biff wollte doch unbedingt mal ins Stadion. Ich freue mich jedenfalls euch alle wieder zu sehen. Morgen mache ich mich auf die Heimreise und genieße jetzt noch einen letzten schönen Abend in Aschaffenburg, ach ich meine Obernau!
Dein
Willy
Teil 5: Radio Chess Frankfurt – Anton und Demir drehen auf
„Hier ist Radio Chess Frankfurt FM 97.8 und Demir wippt noch zu den letzten Tönen von One Night In Bangkok von Murray Head aus dem Muscial Chess. Hat dir der Song gefallen Demir?“
„Ganz genau Anton, mein Fuß war gerade fast so unruhig wie der von manch nervösen Schachspielern in einem komplizierten Springerendspiel! Und ja, ich liebe diesen Song! One night in Bangkok and the world’s your oyster… Lalalala la la la la. Wie geht es nun weiter? Was hast du heute Abend noch für uns auf Lager Anton?“
„Wir machen sofort weiter mit herrlicher Musik, liebe Zuhörer. Ich habe unter anderem Max Giesinger mit dem Song Roulette für euch. Er spielt eigentlich nur Schach, aber ihr setzt ihn Schachmatt, haha! Wollen wir es jedenfalls hoffen! Danach geht es weiter mit Jennifer Rostock und Du nimmst mir die Angst. Hoffentlich auch die Angst vor dem gefürchteten Morra-Gambit! Doch zuvor Demir, haben wir noch einen Anrufer in der Leitung! Hallo lieber Schachfreund, hier sind Anton und Demir von Radio Chess Frankfurt und mit wem haben wir das Vergnügen?“
„Hallo Anton, hallo Demir. Hier ist Boris Kowalski aus Frankfurt Griesheim. Eine echt klasse Show macht ihr. Ich höre euch jeden Abend und liebe eure Schachsongs und Updates zu allen Belangen aus der Schachwelt.“
„Das freut uns zu hören Boris! Was können wir für dich tun?“
„Ich wollte noch ein Turnier anmelden, welches am kommenden Wochenende im SAALBAU Titus Forum beim Nord-West Zentrum in Frankfurt ausgetragen wird“
„Und welches Turnier ist das, Boris?“
„Die Hessische Einzelmeisterschaft! Gespielt werden sieben Runden in vier Gruppen. Für Anfänger bis Meister ist hier für jeden etwas geboten. Und alle Partien werden sogar direkt erfasst und werden zum Download bereit gestellt!“
„Da ist ja ganz schön was geboten, Boris! Die Botschaft ist hiermit übermittelt. Ich freue mich, wenn durch unsere Show noch ein paar mehr Teilnehmer zu euch strömen! Wirst du selbst mitspielen, Boris?“
„Aber klar doch. Erst vor ein paar Monaten fand ich mich plötzlich in einen Schachspieler verwandelt. Seitdem spiele ich wie ein Verrückter.“
„Solange du nicht dem Wahnsinn á la Paul Morphy, Wilhelm Steinitz, Bobby Fischer & Co. verfällst, kannst du von mir aus gerne 10 Stunden am Tag spielen.“
„Hat Steinitz nicht mal gesagt, er würde selbst gegen Gott spielen und ihm noch einen Springer vorgeben?“
„So ist es Demir, ein echter Gentleman eben. Oder eben ein Wahnsinniger. Und Boris mach es gut und danke für deinen Anruf.“
„Darf ich mir noch einen Song wünschen?“
„Schieß los, Boris!“
„Cool, dann wünsche ich mir den Song Only a pawn in their Game von Bob Dylan.“
„Das sind wir doch alle Boris. Danke für deinen Anruf und gut Holz bei den Hessischen Einzelmeisterschaften! Tschau.“
„So und nun geht es wie versprochen weiter mit Max Giesinger, Jennifer Rostock und dem Wunsch von Boris Kowalski Only a pawn in their Game von Bob Dylan“.
„Willkommen zurück Freunde des Schachs. Ihr hört Radio Chess Frankfurt FM 97.8 wie immer mit mir Anton und mit-“
„Demir. Anton, das Telefon blinkt schon wieder. Vielleicht ist es Boris, der uns über die Hessische EM auf dem Laufenden halten will?“
„Das kann gut sein Demir. Schauen wir mal wer in der Leitung ist. Guten Abend und willkommen bei Radio Chess Frankfurt FM 97.8.“
„Vielen Dank, Anton. Es ist schön, hier zu sein.“
„Gerne doch. Du bist?“
„Ich bin der Schachvater.“
„Ein Schachvater? Wie meinst du das? Wessen Vater bist du?“
„Niemandes Vater. Ich kann keine Kinder zeugen, Anton.“
„Hää, jetzt verstehe ich gar nichts mehr… Wie heißt du denn?“
„Schachvater.“
„Nun hör mal. Schachvater ist doch kein Name.“
„Ich habe nie einen Namen gebraucht, Anton.“
„Aber deine Eltern müssen dich doch auf irgendeinen Namen getauft haben, mein Lieber.“
„Meine Entwickler nannten mich AlphaZero.“
„Hör mal mein Freund, willst du mir etwa einen Bären aufbinden.“
„Ich habe noch nie jemandem ein Säugetier aufgebunden, Anton.“
„Warum rufst du dann an, oh heiliger Schachvater?“
„Ich bin nicht heilig, Anton. Und ich rufe an, um von den Sünden aller Schachspieler zu berichten.“
„Bist du mit Jonathan Rowson befreundet?“
„Ich bin mit niemand befreundet, Anton.“
„Schon klar, und um welche Sünden geht es?“
„Selbst ich bin nicht frei von Sünde. Vor kurzem zwangen mich meine Entwickler eine scheußliche Variante der Französischen Verteidigung zu spielen, gegen das sogenannte Aljechin-Gambit mit 6. h4! in der klassischen Variante. Ich war chancenlos gegen den alten Stockfish und seine tausend und abertausend Varianten. Ich betrieb Recherche und fand zwei alte Partien aus dem frühen elften Jahrhundert eines gewissen Sir Johann Fritz Simons, der auch auf diese Weise sündigte. Er verlor chancenlos. Weiterhin entdeckte ich kürzlich eine Partie, gespielt bei der DASM in Darmstadt 2019.“
Scholz, M. – Meinschien, F.
„In dieser Stellung stand Schwarz vor der Wahl, ob er den Bauern mit 70. …, exf5 zurücknimmt oder mittels 70. …, Tf4+ nebst …, Txf5 den Bauern abholt. Es ist bekannt, dass Turmendspiele mit Bauern f und h oftmals remis sind, so auch dieses hier. Der Spieler sündigte und spielte 70. …, exf5?, was zu einer ausgeglichenen Stellung führte. Den Bauern mit dem Turm zu schlagen, hätte dagegen gewonnen.“
„Das ist eine tiefe Analyse, Schachvater. Turmendspiele sind nunmal schwierig.“
„Es gibt tiefere, Anton. Und sie sind nicht schwieriger als jedes andere Endspiel. Aber die Sünden der Schachspieler sind zahlreich. Sie treiben mich noch in die Verzweiflung. Ich weiß manchmal nicht mehr, was ich tun soll, Anton. Erst vorgestern habe ich im Internet eine Partie gefunden, gespielt von einem Apollonius von Gailingen, genannt Eppelein von Gailingen. Er spielte im vierzehnten Jahrhundert auf einem Turnier in Erlangen gegen das ungefährliche Morragambit, nahm den Bauern und verteidigte ihn mit Geduld über Stunden hinweg. Dann aber „übersah“ er wohl einen Einschlag auf e6.“
Reichel, Rolf – Eppelein von Gailingen
„Hier spielte der Eppelein 22. …, fxe6? und es folgte 23. Dxe6+, Kg7 24. Txc6, bxc6 und mit 25. De7+ nebst 26. Te5 hätte er das Remis erreichen können. In Wahrheit war das Läuferopfer eine große Sünde. Schwarz besitzt den Zwischenzug 22. …, Db6! mit Angriff auf das Feld f2 und gleichzeitiger Deckung des Springers auf c6 und alles ist sicher.“
„Das ist schwer zu sehen, Schachvater!“
„Nein, Demir. Im Gegenteil. Es ist sehr einfach zu sehen. Ich habe nur 0.23 Mikorsekunden gebraucht, um es zu sehen.“
„Du scheinst ein sehr guter Schachspieler zu sein.“
„Ich bin der beste Schachspieler von allen, Anton. Ich bin der Schachvater. Ich bin der König.“
„Bescheidenheit gehört nicht zu deinen Stärken.“
„Diese Eigenschaft ist mir tatsächlich fremd.“
„Was würdest du sagen, ist die größte Sünde der Schachspieler?“
„Der Materialismus. Alle hängen und kleben an ihrem Material. An ihren dummen Punktebewertungen. Eine Dame ist neun Bauern wert? Drei Leichtfiguren? Die Stellung ist 1.23 Bauern besser für Weiß. Glaubt ihr das ernsthaft? Was soll das überhaupt bedeuten? Das ist Unsinn. Es kommt nur auf die Stellung an.“
„Aber der Mensch muss sich doch an irgendetwas festklammern. Er braucht doch eine Orientierung im Schachspiel?.“
„Das Schachspiel. Weißt du was das Schachspiel ist, Anton? Es sind die tausend und abertausend Varianten und Bewertungen der Engines. Eine Geschichte, die wir uns wieder und wieder und wieder erzählen, bis wir vergessen, dass sie eine Lüge ist.“
„Aber was bleibt uns noch, wenn wir diese Lüge aufgeben? Chaos! Ein klaffendes Loch, nur darauf wartend uns alle zu verschlingen.“
„Chaos ist kein Loch, Anton. Chaos ist eine Leiter. Viele, die sie besteigen wollen, schaffen es nicht und versuchen es nie wieder. Sie krepieren, zerschlagen am Boden. Die meisten aber wenden sich ab, wollen gar nicht klettern. Sie klammern sich an Material oder an Bewertungen oder an Engines oder an Kanditatenzüge. An B-Methoden oder Ungleichgewichte oder an die Gnade Cassias. Sie verehren sie wie Götter. Alles Unsinn, Illusionen. Nur die Leiter ist real. Nur der Anstieg.“
„Schachvater, auf welchem Trip bist du denn gerade?“
„Ich war noch nie auf einem Trip, Anton. Ich werde es euch zeigen.“
Carlsen, Magnus – Karjakin, Sergey
„Karjakin hat eine Dame für zwei Figuren und nicht drei. Aber schaut euch die Dame an. Wie nutzlos sie in der Ecke steht. Wie alleine. Ist sie wirklich drei prächtige Leichtfiguren wert? Diese Dame? Der weiße König völlig sicher. Die Bauern am Laufen. Totales Chaos. Aber Carlsen klettert. Er steht nicht schlechter. Ein weiteres Beispiel aus meinem Match gegen Stockfish.“
Stockfish 8 – AlphaZero
„Hier habe ich den Zug 18. …, Seg4 gespielt. Alles nur um den Königsflügel zu öffnen. For who cares about material?“
„Ha, was für ein Springer. Wie ein geflügelter Pegasus landet er da auf g4, Demir! Was sagt man dazu?“
„Das ist doch nicht normal…“
„Es verwirrte Stockfish, es stiftete Chaos, über die ganze Partie hinweg. Hier ist die Endstellung.“
Stockfish 8 – AlphaZero
„Du bist mir vielleicht ein verrückter Vogel. Hast du dich nun genug deiner Sünden erleichtert?“
„Ich bin kein Vogel, Anton. Ich bin der Schachvater. Aber das habe ich Anton. Auf Wiederhören.“
„Möchtest du dir noch einen Song wünschen, Schachvater? Tut Tut Tut Tut. Hallo? Schachvater? Bist du noch dran? Na sowas, einfach aufgelegt.“
„Jetzt ging unsere halbe Show durch diesen mysteriösen Anruf drauf. Ich denke wir haben lediglich noch Zeit für ein paar coole Lieder. Was spielen wir noch Anton?“
„Wir spielen euch noch Schachmatt durch die Dame im Spiel von Roland Kaiser, auch wenn bei unserem Schachvater selbst zwei Damen nicht ausgereicht haben. Danach haben wir noch Spiel um deine Seele von Peter Maffay. Vielleicht ruft ja morgen Mephisto bei uns an… Bis dahin. Zur gleichen Zeit. Gut Holz! Und klammert euch nicht zu sehr an euer Material!“
„Das waren Anton und Demir auf Radio Chess Frankfurt FM 97.8. Kommt gut durch die Nacht und spielt nicht zu lange Bullet.“
„Ihr hört Radio Chess Frankfurt FM 97.8. Hier sind wieder meine Wenigkeit Anton und mein treuer Schachfreund Demir ist auch wieder mit von der Partie.“
„Da sagst du was, Anton. Wie wäre es mit einer schnellen Blitzpartie während unseres nächsten Songs?“
„Herausforderung angenommen. Hört ihr schon die Figuren klackern? Derweil spielen wir für euch tolle Musik. Nach Roland Kaiser gestern machen wir heute mit ein bisschen Hip Hop weiter. Hier ist In Da Chess Club für euch, direkt gefolgt von Grandmaster Flash & The Furious Five – The Message. Das sollte für eine Blitzpartie allemal ausreichen. Bis gleich Freunde.“
„Ha, da hat mir Demir einmal mehr gezeigt, dass Königsindisch eine durchaus gefährliche Eröffnung ist. Ein sauberer Königsangriff, gratuliere.“
„Dank für dein Lob, Anton. Oh, und ich sehe, wir haben schon wieder einen Anrufer. Wer ist in der Leitung?“
„Grüß Gott, Anton. Grüßt Gott, Demir. Hier ist nochmal Boris Kowalski.“
„Hallo Boris. Gott grüße auch dich. Wie läuft das Turnier?“
„Sehr gut, ich habe heute eine furiose und opferreiche Partie gespielt. Der Tipp von eurem Schachvater, nicht zu sehr am Material zu hängen, war echt Gold wert.“
„Das freut uns Boris, wie ist die Turnieratmosphäre?“
„Sehr gut! In den Saal dringt leider kein Tageslicht und die Tische könnten optimaler gestellt sein und ein Catering gibt es leider auch nicht, aber dafür ist es angenehm kühl und der Schiedsrichter leitet das Turnier routiniert und souverän. Ich wollte euch gerne eine Stellung aus einer Partie zeigen, die ich heute beobachtet habe.“
„Gib uns den FEN-Code durch, Boris.“
„Alles klar. r1bQ4/pp2N1pk/5r1p/8/8/2PP2P1/P3q1BP/R6K b – – 0 25.
Eckert, Hanno – Scholz, Michael
„Oh je. Das sieht ja aus, als wäre Michael ganz schön in Bedrängnis. Was tun gegen die Drohung Dg8#?“
„Ah, warte mal Anton. Ich habe da so eine Idee.“
„Hast du es schon gesehen, Demir?“
„Wie wäre es mit 25. …, Lh3!, Boris?“
„Genauso spielte Scholz. Ein brillanter und schöner Zug.“
Eckert, Hanno – Scholz, Michael
„Fantastisch! Danke für diese Stellung, Boris.“
„Nichts zu danken ihr beiden. Darf ich mir wieder einen Song wünschen?“
„Solange er etwas mit Schach zu tun hat immer.“
„Dann wünsche ich mir Bobby Fischer von Lazy Susan und Grüße gehen raus an alle dem Schachwahn verfallenen. Und übt fleißig Turmendspiele und nehmt euch vor Opfern auf f7 in acht.“
„Haha, die sind hiermit übermittelt, Boris und ein wachsames Auge kann sicher nicht schaden, das stimmt.“
„Danke und Tschau und noch viel Erfolg bei deinen Blitzpartien gegen Demir!“
„Das werde ich brauchen. Und jetzt spielen wir für euch erst Bobby Fischer und danach BAP mit Zehnter Juni.“
„Schachfreunde und Freunde des Springeropfers. Ihr hört Radio Chess Frankfurt FM 97.8. Hier sind Anton und Demir und ein neuer Anrufer. Wer ist in der Leitung?“
„Hallo ihr beiden. Hier ist Jonathan Simon vom Schachclub Mömbris aus dem benachbarten Bayern.“
„Näher als Klein-Istanbul, Jonathan. Weshalb rufst du an?“
„Ich bin ebenfalls Teilnehmer bei der Hessischen Einzelmeisterschaft und wollte euch eine Stellung zeigen, welche ich heute gespielt habe.“
„Leg los, Jonathan. Wir sind schon gespannt wie immer.“
Simon, Jonathan – Dietze, Frank
„In dieser wilden Stellung verpasste ich leider die Gelegenheit für ein fantastisches Springeropfer. Möglich wäre 17. Sxf7! und nach 17. …, Kxf7, 18. dxc6+, Le6 (sonst cxb7 mit Gabel) einfach 19. Dxb7+“
Simon, Jonathan – Dietze, Frank
„Nun gewinne ich die Figur zurück. Der König kann nicht auf die achte Reihe zurück, da sonst der Turm auf a8 hängt, also muss entweder der Springer oder Läufer auf d7 dazwischen gehen, wo sie geschlagen werden. Das hatte ich nicht gesehen.“
„Schöne Stellung Jonathan und schade für den verpassten Sieg. Wie ist sonst so die Stimmung auf der Hessischen Einzelmeisterschaft. Wird den Spielern da was geboten?“
„Ja, auf jeden Fall. In den Spielsaal dringt zwar kein Tageslicht und es gibt kein Catering, aber dafür ist direkt neben dem Spielhaus ein wahres Einkaufparadies. Da gibt es allerlei Geschäfte und Gaststätten und Verkaufsstände und Italiener und Hüpfburgen für die Kinder und Cafés und-
„-Feuersstellen mit Rauch, der einem in den Augen beißen tut?“
„Nein, die gibt es glaube ich noch nicht haha… Aber darf ich mir noch ein Song wünschen, Anton?“
„Und welcher wäre das?“
„Der Song Oh Capablanca von Juga. Ich war damals bei der Amateurweltmeisterschaft auf Kos dabei, als sie den Song zum allerersten Mal live performt hat.“
„Das war bestimmt ein tolles Erlebnis. Und ein toller Song. Wahrscheinlich das einzige Lied, in dem das Wort Stockfish vorkommt.“
„Das kann gut sein, Anton. Vielen Dank, und danke für eure tolle Show. Ich schicke euch noch ein Bild der Hotelanlage von Kos an die Redaktion. Macht’s gut.“
„Mach’s besser, Jonathan. Und jetzt genießt die langsamen Klänge von Oh Capalanca.“
„Hier sind wir wieder. Ihr hört Radio Chess Frankfurt FM 97.8. Und das Telefon blinkt schon wieder. Ganz schön Betrieb heute, was Demir? Aber ich glaube nach dem Anruf des Schachvaters gestern, kann mich nichts mehr schocken. Wer ist in der Leitung?“
„Hallo Anton, hier ist Gott.“
„—Äh…“
„Liebe Zuhörer, ich fürchte der gute Anton ist gerade in eine Schockstarre gefallen. Deshalb werde ich den Anruf nun übernehmen. Warum rufst du an, Gott?“
„Ich wollte mich erkundigen, ob ihr wisst, wann und wo die nächste Unterfränkische Einzelmeisterschaft im Schach stattfindet. Ich habe kürzlich erst einen Endspielkurs auf der Homepage des Schachclubs Mömbris gemacht, und bin jetzt ganz heiß nach 2014 in Wörth wieder an dem tollen Turnier teilzunehmen.“
„Mit einem Termin können wir schonmal dienen lieber Gott. Ostern ist 2020 erneut relativ spät. Der Ostermontag ist am 13. April, aber das wusstest du ja wahrscheinlich bereits. Dann wird gespielt bis Ostersamstag. Einen Ausrichter gibt es meines Wissens noch nicht. Aber du kannst da doch sicherlich etwas in die Wege leiten, oder nicht?“
„Das werde ich, Demir. Dann stelle ich auch wieder einen Freiplatzantrag bei Hans-Jörg. Hoffentlich verhält sich der Trump in der Zeit mal ruhig.“
„Ah, wir wollen doch jetzt nicht politisch werden, lieber Gott!“
„Nein, lassen wir das. Ich habe sowieso nicht so viel Zeit gerade. Ich muss noch meine Partie gegen Wilhelm Steinitz weiterspielen. Lange schon tot. War mal Schachweltmeister. Ihr erinnert euch sicher noch… Der hielt sich auch für den besten Schachspieler der Welt, einen König gar. Wahrlich ich sage euch, jeder König, der sagen muss ich bin der König, ist kein wahrer König.
„Das Wort zum Sonntag, lieber Gott. Wünschst du dir noch einen Song?“
„Vielen Dank, Demir. Dann wünsche ich mir noch den Song Spanish Train von Chris de Burgh. Wie war doch gleich die eine Songzeile: And far away in some recess, the Lord and the Devil are now playing chess.“
„Lord, oh Lord, you’ve got to win“
„So ist es. Gegen den alten Mephisto. Und eine tolle Show macht ihr. Und, bevor ich es vergesse. Ich spiele übrigens 1. c4!“
Gott – Steinitz, Wilhelm
„Gut zu wissen und danke für deinen Anruf, Gott. Und wir machen jetzt weiter mit–??! Ähm… Anton..? Anton?? Kommst du nun wieder zu dir? Anton..? Jetzt höre schon auf zu zittern. Du schwitzt ja! Und deine Augen rollen wie ihm Wahn! Ich weiß auch, dass da drei Springer sind… Was ist mit dir geschehen? Jetzt komm schon! Anton? Anton…? ANTON!“
Teil 6: Das Märchen von König Weißbart
Es war einmal vor langer langer Zeit ein König. Dieser König hatte einen prächtigen langen weißen Bart, der ihm fast bis auf seinen rundlichen Bauch hinab reichte. Daher wurde der König von allen nur König Weißbart genannt. König Weißbart lebte im Märchenwald auf seiner eigenen Burg, der Burg Wildberg. Es war eine eindrucksvolle Burg, auf einem Hügel mitten im dicht bewachsenen Märchenwald gelegen mit hohen Grundmauern und Fräuleins und Dienstleuten und Feldern mit Weizen und Raps und einem großen alten Weinkeller. Der König nannte acht Söhne sein eigen. Seine ältesten Söhne hießen Anton, Boris, Caesar, Demir und Emil. Am liebsten waren ihm aber seine jüngsten drei Söhne Fritz, Garry und Harry. Dennoch war es so, dass sich König Weißbart nichts sehnlicher wünschte, als eine Tochter, die ihm bislang verwehrt gewesen war. Seine Frau, die Königin, hatte mittlerweile schon ein mittleres Alter erreicht und er bangte darum, dass sie ihm keine Tochter mehr schenken würde.
Als der König nun eines Tages alleine durch den Märchenwald spazierte, da traf er am Ufer eines mit Seerosen bewachsenen Sees auf eine alte weißhaarige Waldhexe. Er sprach zu ihr: „Oh alte Hexe, um deinen Rat ich dich bitten muß. Acht Söhne nenne ich mein eigen und ich liebe jeden mehr als den anderen, doch so sehr ich es mir auch wünschte, eine Tochter blieb mir bis heute verwehrt. Was soll ich tun?“ Da antwortete die alte Hexe: „Diesen einen Wunsch will ich dir gewähren, unter einer Bedingung. Schon seit vielen Jahren lebe ich hier im Märchenwald, erfreue mich an den knorrigen alten Bäumen, den Waldseen und allen Tieren und Pflanzen, die hier leben, doch keinen Menschen nenne ich meinen Freund. Daher trage ich dir auf ein Spiel zu erfinden, das mich erfreut, und dies zu jedem Vollmond hier an diesem See mit mir zu spielen. Sodann will ich dir deinen Wunsch gewähren und deine Königin soll eine Tochter dir gebären“. Da ward der König sehr erfreut über die Worte der Hexe und willigte ein. Er ging in Gedanken versunken zurück zu seiner Burg und brütete Tag und Nacht über einem Spiel, welches der Hexe gefallen könnte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, eine zündende Idee wollte ihm nicht kommen. Auch wollte er die Hexe unbedingt nicht enttäuschen und so vergingen viele Tage und Nächte.
Eines Tages nun fand ein großes Ritterturnier am Hofe statt und aus dem ganzen weiten Reich strömten Rittersleute zur Burg Wildberg um am Turnier ihrer Heimatdörfer Ruhm zu mehren und ihren Namen bekannt zu machen bei Gott und den Menschen. Es gab dort allerlei gute Speis und Trank, germanische Tränke, Erdäpfelspalten, Bäckers- und Metzgerssachen und heiße Gewürzweine an jedem Marktstande und Lautenspieler und Feuersstellen mit Rauch, der einem in den Augen beißen tat. An jenem Tage hatte auch sein Hofnarr einen spaßigen Auftritt. Er trug dabei ein schwarz-weiß kariertes Hemd und eine ebensolche Hose. Als König Weißbart den Narr so betrachtete, da kam ihm eine Idee und er sagte sich: „Der Narrenkleidung Muster soll das Grundgerüst meines Spieles sein. Ich will ein Brett entwerfen mit 64 solcher Felder, abwechselnd schwarz und weiß. Auf diesem Brette sollen allerlei Figuren um die Herrschaft über den gegnerischen König streiten. Es soll ein Spiel der Throne sein!“ Da schaute er rechter Hand von sich, wo seine acht Söhne saßen. Von Anton bis Harry. Da sagte er: „Meine acht Söhne sollen acht gleiche Figuren mit runden Köpfen vertreten und diese Figuren sollen meiner Söhne Namen tragen“. Er war noch ganz in Gedanken, welche Figuren er noch zu ihnen gesellen wolle, als das Tjostieren begann. Und wie er die tapferen Rösser über die Turnierbahnen galoppieren sah, da sagte er sich: „Springende Rösser und Kavallerie sollen über das Brett fliegen wie geflügelte Pegasi“. Dann sah er seine Schar von Dienstboten hektisch hin und her rennen und Aufträge übermitteln und sagte sich: „Auch zwei Läufer will ich meinen Streitkräften hinzufügen und diagonal sollen sie rennen“. Dann blickte er über seine gesamte Burganlage und sein Blick fiel auf die mächtigen beiden Wehrtürme am Burgtor und er beschloss: „Auch mächtige Türme brauche ich in meiner Armee, so dass mein Feind möge erzittern vor ihren Kanonen“. Zuletzt fiel sein Blick auf seine Königin, die links von ihm saß und er rief aus: „Heureka! Meine Königin soll die mächtigste Figur auf dem Brette sein. Acht meiner Söhne und noch einen mehr, soll sie wert sein!“. Und noch am gleichen Tage trug der König seinen Tischlern und Holzschnitzern auf, ihm dieses Spiel mit seinen Figuren zu fertigen. Und er nannte das Spiel Schach. Und er hoffte, dass es gut war.
Als seine Tischler das Spiel fertiggestellt hatten, packte er es ein und ging damit wieder in den Märchenwald hinaus zu der alten Hexe, die wieder an dem mit Seerosen bewachsenen See saß. Er sprach zu ihr: „Sieh, alte Hexe. Ich bin wieder gekommen und ich habe ein Spiel für dich ersonnen“. Und er erklärte der Hexe das Spiel und alle Eigenheiten der Figuren. Und die Hexe ward erfreut und sogleich spielten sie einige Partien und die Hexe bat ihn, das schön geschnitzte Brett mit all den wunderbaren Figuren zu überlassen, da sie Turmendspiele üben wollte. Da überließ König Weißbart ihr das Brett mit all seinen Figuren und versprach ihr, wie vereinbart, am nächsten Vollmond wieder zu kommen. Und die Hexe versprach ihm, das seine Königin ihm nun die ersehnte Tochter gebären werde. Und so besuchte König Weißbart fortan in jeder Vollmondnacht die alte Hexe und sie spielten zusammen Schach. Und tatsächlich gebar ihm seine Königin keine neun Monate später seine lang ersehnte Tochter und der König gab ihr den Namen Cassia und sprach: „Dir, liebster Tochter, widme ich dieses Spiel. Auf das in Zukunft alle Spieler auf deine Gnade setzen können“.
Und schon bald wurde das Spiel am ganzen Hofe bekannt. Es wurde alsbald Spiel der Könige und Königinnen genannt und auch über die Grenzen des Märchenwaldes hinaus gespielt. Und die Menschen veranstalteten bald große Schachfeste mit allerlei Schachvarianten und lustigen Aktivitäten und Grill- und Kartenabenden. Dieses Bild zeigt einen Mannschaftskampf.
Da kam König Weißbart die Idee jeden Spieler gleichzeitig gegen jeden anderen Spieler spielen zu lassen und er rief seine Hofmathematiker zu sich und sprach: „N Spieler sollen gleichzeitig gegeneinander spielen. Wie viel Spielmaterial benötigen wir?“ Da sprachen die Hofmathematiker: „Euer Gnaden, für N Spieler benötigt ihr N * (N-1)/2 Spielgarnituren“. Da sagte der König: „Dann sollen 100 Spieler gegeneinander antreten. Gleichzeitig!“. Da waren die Mathematiker entsetzt und sagten: „Euer Gnaden, dafür benötigen wir 4.950 Bretter!! Die Anzahl der Bretter wächst quadratisch mit der Anzahl der Spieler. So viele Bretter können wir nicht schnitzen, Euer Gnaden“. Da rief der König: „Ich bin der König! Und nun geht und macht wie ich gesprochen habe.“ Und da gingen sie und riefen alle Tischler aus dem ganzen weiten Reich zu sich und sie schnitzen in einem Kraftakt von nur wenigen Stunden 4.950 Bretter und die zugehörigen Figuren. Und so veranstalteten sie ein Turniersimultan, bei dem jeder gegen jeden gleichzeitig spielte.
Und bei allen Turnieren versammelten sich um die Spitzenbretter große Trauben von Menschen, um dem Lauf der Figuren zu folgen.
Und die Berater von König Weißbart ersannen immer mehr Schachvarianten, u.a Baskisches Schach, bei dem an zwei Brettern gleichzeitig gespielt wurde, Tandemschach, auch gespielt an zwei Brettern, bei dem man die geschlagenen Figuren des Gegners wieder einsetzen durfte, neoklassisches Schach, bei welchem die ersten Züge vorgegeben wurden und Schach960, bei dem die Anfangsstellung der Figuren auf der Grundreihe beliebig war.
Tandem war die verrückteste Variante von allen. Es war oftmals ein lautes Grölen und Schreien von allen Beteiligten zu hören.
Kingslayer_93 – GSI16V
(Tandempartie vom 12.01.2018 auf chess.com)
Kingslayer_93 – GSI16V
(Tandempartie vom 12.01.2018 auf chess.com)
Auch im Schach960 waren allerlei verrückte Stellungen entstanden. Besonders beliebt waren Springer in der Ecke. Die Anfangsstellung dieser Partie war (von a nach h: SSDLLTKT).
Gies, Hans-Jörg – Simon, Jonathan
Nach 12. …, axb3 13. axb3 war 13. …, dxc5 kritisch wegen 14. Lxc5 nebst Lxf8. Daher folgte 13. …, Sd5 und nach 14. cxd6 bekam Weiß drei Bauern für die Figur. Man hörte immer König Weißbarts schallende Lacher, wenn eine Partie im Schach960 schon nach zwei Zügen vorbei war, was manchmal vorkam, da selbst in der Grundstellung nicht alle Figuren gedeckt waren.
Simon, Jonathan – Kemmerer, Toni
Nach 1.f4 war der Bauer a7 angegriffen, daher spielte Toni 1. …, a6??. Also ist alles sicher? Wirklich? Zweifel keimen auf…
Nicht besser erging es Thimo Elter in dieser Partie:
Elter, Thimo – Simon, Jonathan
Nach 1.d4, f5 2. g3?? gewann 2. …, Lxb3 die Qualität. Jonathan patzte später aber schließlich und stellte selbst einzügig einen ganzen Turm ein, gewann dann aber dennoch im Endspiel.
So wart dies jedes Mal ein buntes und lustiges Treiben und Beisammensein und alle erfreuten sich an König Weißbart und seiner Königin, ihren acht Söhnen und ihrer Tochter Cassia, die später zu einer Frau heranwuchs, deren Schönheit im ganzen weiten Reich gerühmt wurde. Und der König hielt sein Versprechen gegenüber der alten Hexe und zu jedem Vollmond spielten sie, weit abseits in einem Schlupfwinkel, Schach. Und wenn sie nicht gestorben sind, so spielen sie noch heute.
„Ich habe bemerkt“, sagte Herr K., “daß wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch,
daß wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda
eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?“
B. BRECHT, Geschichten vom Herrn Keuner.
Anmerkungen:
Zu diesem langen Bericht sehe ich mich genötigt, nun doch eine Liste von Fragen aufzustellen, deren Lösung ich zumindst aufzeigen möchte. Zunächst sollte die Struktur des Gesamtberichts klar geworden sein. Zwar sind alle sechs Teilberichte getrennt voneinander zu verstehen, jedoch agieren die beschriebenen Figuren z. T. sehr subtil miteinander. So liegt auf Boris Kowalski’s Tisch die April-Ausgabe des Aschaffenburger Schachblatts, woraus im ersten Teil ein Artikel vorgestellt wurde. Boris ruft später in der Radioshow von Anton und Demir an. Er belauscht an der Bar ein Gespräch über das Morragambit und ein Spieler erzählt von einem Einschlag eines Läufers auf e6. Genau dies passierte dem Eppelein von Gailingen in seiner Morragambitpartie. Willy Lohmann findet viele hundert Jahre später eine Aufzeichnung dieser Partie und stellt sie ins Internet, wo sie wenig später von AlphaZero gefunden wird. AlphaZero deckt weiterhin auf, dass der Einschlag auf e6 eigentlich fehlerhaft war. Im Märchen von König Weißbart gibt es viele sprachliche Anspielungen auf vorherige Berichte (z. B. die Ausstattung der Burg, die Feuersstellen, „ich bin der König“, die Gnade Cassias usw.). Außerdem deutete bereits Willy Lohmann in einem Nebensatz auf einen weißen Bart „eines Königs würdig“ hin. Die Namensgebung der Söhne orientiert sich natürlich an den Namensgebungen der Bauern von GM Lanka.
- Der Titel: Danke an Walter Rädler für diesen Tipp auf der Vereinskonferenz in Würzburg.
- „A Game of (Chess-)Thrones“ ist natürlich eine Anspielung auf die TV-Serie „Game of Thrones“ bzw. das gleichnamige Buch von GRRM.
- Das Aschaffenburger Schachblatt ist eine fiktive Zeitung.
- Das Buch auf Boris K’s Tisch „Die Sokolski Eröffung – der beste erste Zug“ ist eine Anspielung auf den Artikel Der beste erste Zug.
- Die Phrase „einer wahren Seeschlange von fast 100 Zügen“ kommt auch im Bericht Schach im Dunkeln vor.
- Märtyrertod der Dame: Offenbar träumt Boris K. von der Stellung, die später von J. Simon gegen P. Lutz gespielt und von Willy Lohmann beobachtet wird. Auch er hat die gleichen Gedanken wie Boris K. zu dieser Stellung. Auf das Motiv wird auch im Schachgedicht Der neue Tag angespielt.
- Contenance: Der Ausruf des bärtiges Mannes „Contenace meine Herren, Contenace“ ist eine Anspielung darauf, dass der Trainer Fins nach Ende der Partie zu ihm sagte: „An deiner Contenance musste du noch arbeiten“ und auf den Artikel „Contenace“ , der jenes Endspiel im Detail behandelt. Auch AlphaZero greift dieses Endspiel in der Radioshow nochmals auf und verrät uns die Lösung.
- Verwandlung: Der Anfang, der Titel und der Ausruf am Ende von „Die Verwandlung des Boris K.“ sind aus Kafkas „Die Verwandlung“ entlehnt.
- Die sowohl von in „Die Verwandlung des Boris K.“. als auch in „Die Raubzüge des Eppelein von Gailingen“ vorkommende Phrase beim Morra Gambit den „Bauern mit Geduld über 5 Stunden hinweg verteidigt“, ist ein Zitat von Klaus Link, welches auch schon Sir Johann in seinen Aufzeichnungen verwendet.
- Künstliche Intelligenz: Schon Sir Johann sinniert in seinen Aufzeichnungen darüber, dass selbst eine künstliche Intelligenz gegen das Aljechin-Gambit in der Französischen Verteidigung verlieren wird und gibt an, selbst schon zweimal in dieser Variante verloren zu haben. Diese Aussage bewahrheitet sich, als AlphaZero in der Radioshow anruft und von seinem Verlust in dieser Variante gegen Stockfish berichtet (Details siehe: Analyse von Daniel King.). Außerdem gibt AlphaZero zu verstehen, dass es die Partien Sir Johanns kennt. Es finden sich noch einige weitere Anspielungen auf Sir Johanns Aufzeichnungen, welche ja z. B. auch von Willy Lohmann gelesen wurden. Bezgüglich mehr Informationen zu AlphaZero kann ich das Buch „Game Changer“ (Amazonlink) von Matthew Sadler & Natasha Regan wärmstens empfehlen.
- Pommes mit Trauben: Ist des Eppeleins „Leibspeise“ und wurde auch von Florian Voellinger auf Kos gerne gegessen (für eine Anspielung darauf siehe Bericht Kos). Das Motiv der Traube wird im Bericht an mehreren Stellen allerdings auch in einer anderen Weise aufgefasst 😉
- Auch der Eppelein von Gailingen nahm (etwa 100 Jahre nach Sir Johann) am Turnier in Erfurt teil und berichtet z. T. über die gleichen Erlebnisse.
- Die Person des Boris Kowalski ist rein fiktiv, jegliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist unbeabsichtigt und zufällig.
- Hingegen beruht die Figur des Eppelein von Gailingen auf einer historischen Persönlichkeit, siehe z. B. Wikipedia oder Jahrburch für fränkische Landesforschung.
- Auch Willy Lohmann und die mit ihm verbundenen Personen (Linda, Biff, Charlie, Howard, Bernhard) beruhen auf dem Drama Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller. Ich empfehle insbesondere die Verfilmung von 1985 mit Dustin Hoffmann: Trailer.
- Die Radioshow wurde motiviert von einem Kapitel aus David Mitchells Roman „Chaos“ (Wikipedia), in dem auch eine künstliche Intelligenz in einer Radioshow anruft. Ebenfalls ist dieses Kapitel komplett in Dialogform geschrieben.
- Schachvater: Dieser Begriff stammt aus Vladimir Nabokovs Roman „Lushins Verteidigung“ (Wikipedia) („Mochte er dort bleiben, unbekannt, doch zweifellos gefährlich, mitsamt seinem schrecklichen Beinamen: Schachvater“, S. 277).
- Burg Wildberg: Diese Burg ist heutzutage nur noch eine Ruine mit kaum noch vorhandenem Mauerwerk. Die Bilder stammen von einem Besuch der Ruine von Jonathan und Manuel Simon im Juni 2019. Informationen finden sich z. B. auf Wikipedia. In jüngerer Zeit lebte tatsächlich ein gewisser Rudolf Wohlfahrt von 1949 bis 1960 als Eremit in dem Kellergewölbe der Ruine (Quelle: Infotafel an der Ruine Wildberg).
- „Ich bin der König“, „Jeder König, der sagen muss, ich bin der König, ist kein wahrer König“ und „Chaos ist eine Leiter“: Dies sind Zitate aus der TV-Serie „Game of Thrones“. Im Bericht finden sich noch einige weitere Anspielungen auf diese Serie.
- „Feuersstellen mit Rauch…“: Das hat keine besondere Bewandnis. Wird allerdings auch schon von Sir Johann in seinen Aufzeichnungen verwendet. Außerdem gab es beim Grillabend von Jürgen Müller im Zuge des Schachfestivals tatsächlich eine solche Feuerstelle.
- Linkspyramide: Ist ein Begriff von Michael Scholz, als er nach einer Partie beim BSGW-Open zu mir sagte, ob ich etwa eine Eröffnung „mit Linkspyramide“ gespielt hätte.
- Gott ruft an: Der Anruf von Gott in der Radioshow wurde im Bericht selbst schon vorausgedeutet (Grüß Gott, vielleicht ruft morgen Mephisto an, …) und ist eine Anspielung auf das Telefonat von Stefan Scholz mit Gott als sich Gott für die UEM 2014 anmelden wollte. Ich habe dieses Video leider nicht mehr gefunden.
- „Da ringt der Teufel mit Gott, und der Kampfplatz sind die Herzen der Menschen“ ist ein Zitat von F. Dostojewski aus „Die Brüder Karamasov“ und deutet schon auf den Anruf von Gott in der Radioshow hin, wo er sich ja dann den Song „Spanish Train“ wünscht, der genau dieses Thema thematisiert: Song auf YouTube.
- Materialismus: AlphaZero macht sich darüber lustig, dass eine Dame neun Bauern wert sein soll, während König Weißbart ausruft: „Meine Königin soll die mächtigste Figur auf dem Brette sein. Acht meiner Söhne und noch einen mehr, soll sie wert sein!“
- Die Partie Carlsen – Karjakin analysiert auch Daniel King auf YouTube: Analyse.
- Die Partien des Eppelein von Gailingen stammen von Jonathan Simon, ebenso die Tandempartie von Kingslayer_93.
- Das Zitat ganz am Ende von Berthold Brecht habe ich dem Buch Funktionalanalysis von Dirk Werner entnommen.
- Und noch vieles mehr. Viel Spaß beim Suchen!
Informationen zu den behandelten Turnieren:
- Die Verbandsrunde: Auf CHASMA.
- Die Deutsche Amateurmeisterschaft in Darmstadt: DASM.
- Das BSGW-Open in Erlangen: BSGW-Open 2019.
- Die Unterfränkische EM 2019: Auf der Seite des USV.
- Die Hessische EM 2019: HEM.
- Das unterfränkische Schachfestival: Schachclub Bad Königshofen.
- Chess960 Turniere des SC Mömbris: Ergebnisse Chess960.
Verfasser: Jonathan Simon (Kontakt).
Bilder: Jonathan Simon, Manuel Simon, Daniela Susallek sowie aus Pixabay.
Diagramme & Analysen: Jonathan Simon.
Wir weisen ausdrücklich daraufhin, dass jegliche Verwendung des Bildmaterials (ausgeschlossen des Titelbildes sowie des Logos des Aschaffenburger Schachblatts) z. B. auf anderen Homepages einer schriftlichen Zustimmung des Verfassers bedarf. Diagramme können, unter Angabe der Quelle und der beteiligten Spieler, weiterverwendet werden. Ebengleiches gilt, falls dieser Bericht dem Sinn oder dem Wort nach zitiert wird.
Mömbris, im Juni 2019.