Allgemeinsonstige Turniere

Auf der Suche nach der verlorenen Unterfränkischen: Der Schachbummler

Als ich damals Kitzingen endgültig verließ, hinterließ ich nichts als den Abglanz verblassender Erinnerungen an Schemen von Gestalten, die sich über Bretter mit hölzernen Figuren beugten. Ich packte meinen Schachkoffer und meine sieben Eröffnungsbücher und verließ die Stadt noch am gleichen Tage, um sie, bis zum heutigen Tage, kein einziges Mal erneut zu betreten. Meine Schachreisen führten mich hernach an allerlei Orte. Nach Erfurt (wo schon seit dem Mittelalter zwischen den Jahren ein großes Turnier stattfindet), nach Erlangen, nach Kehlheim (einstmals mitten im tiefen schneereichen Winter), nach Großenseebach (bei sengender Hitze) und an weitere Spielstätten, ich könnte sie gar nicht alle aufzählen, selbst wenn ich wollte.

Es war nun im Jahre 2011 als mich mein Schachweg nach Gerolzhofen zur 62. Unterfränkischen Einzelmeisterschaft führte. Nicht als Spieler nein, ich spiele nur noch selten müssen Sie wissen, sondern als Zuschauer, Kiebitz, wie der geneigte Schachfreund zu sagen pflegt. Es war Mittwoch, der 27. April, als ich mich in eine kleine Pension im Herzen der Kleinstadt einmietete um noch bis Ostersamstag dem Lauf der königlichen Spiele zu folgen. Ich erreichte zu Fuß den Spielort und unweigerlich wanderten meine Gedanken zurück nach Kitzingen, als ich ein Jahr zuvor ebenfalls ein paar Tage als Gast bei der Unterfränkischen ebendort weilte. Ich dachte an die große weitläufige Halle, die prunkvolle Siegerehrung im historischen Rathaus und, oh ja, an die Wege vom Hotel Würzburger Hof zum Spielort. Ampeln über Ampeln und seltsame noch dazu! Das war nichts für den alten Bummler. Hier gefiel es mir besser. Kleine überschaubare Gässchen. So lief ich in aufgeheiterter Stimmung am Mittwoch morgen (die Runde würde schon um 09:00 Uhr beginnen) durch Gerolzhofen.

So sehr ich mich auch heute daran versuche  zu erinnern, um was für eine Art von Gebäude es sich genau handelte, so sehr bleibt es mir heute auch schleierhaft. Mir blieb es als eine Art von Museum in Erinnerung, mit etwas verwinkelten Ecken und Gängen und Vitrinen mit Ausstellungsgegenständen, aber ich möge mich in diesen Punkten täuschen… Im Spielssal herrschte eine heitere, fröhliche Stimmung. Es wurde vielerorts gelacht, manche Spieler saßen schon an ihren Brettern, andere holten sich noch einen morgendlichen Kaffee oder ein Kaltgetränk, andere legten fein säuberlich aufgereihte Stifte neben ihr Brett, andere füllten schonmal ihr Partieformular aus, manche zogen ihre Jacken aus, da ihnen zu warm war, andere zogen ihre Jacke wieder an, da ihnen zu kalt war. Alle freuten sich auf die bevorstehenden 6 Stunden. An jenem Tag wurde traditionell nur eine Runde gespielt, es waren daher besonders kampfesreiche Partien zu erwarten. Ich sah Jürgen Müller, Schiedsrichter wie eh und je, noch ein letztes Mal die Uhren kontrollieren und wachsam durch die Bretterreihen streifen. Er begrüßte die Teilnehmer zur vierten Runde und wünschte den Partien einen spannenden und fairen Verlauf. „Die Bretter sind frei!“. Und schon vernahmen meine Ohren ein simultanes Klicken als die Schwarzspieler die Uhren der Weißspieler in Gang setzten. Die ersten Züge wurden ausgeführt und Spannung lag in der Luft. Ich bummelte durch die Reihen, sah Fritz Scholz, der wahrscheinlich schon bald zum 50. Male dabei sein wird, FM Harald Golda, den Vorjahressieger, Michael Pfarr, welcher in Kitzingen überraschend sogar den dritten Platz erreichte, Jonathan Simon, der zum ersten Mal in der M2 spielte, Manuel Simon, dessen Bruder, der in diesem Jahr zum ersten Mal dabei war und im Hauptturnier, welches auch Aufstiegsturnier genannt wird, sein Glück versuchte und viele weitere alte bekannte und neue Gesichter. Ich bummelte schließlich zu den Aushängen mit den aktuellen Paarungen und Tabellen.

Nach den gespielten drei Runden besaßen Hans-Joachim Hofstetter, Udo Seidens, Gabriel Seuffert und Norbert Kuhn in der M1 jeweils 2.5/3 Punkte. In der M2 gelang Thomas Vogt eine bisher ungebrochene Siegesserie, ebenso Manfred Mauder und Manuel Flach im Hauptturnier B. Es war also noch alles offen und natürlich inklusiver dieser Runde noch sechs Runden zu spielen. Ich bummelte zum Spitzenbrett in der M1, hier spielte Gabriel Seuffert gegen Udo Seidens. Am zweiten Brett spielte Norbert Kuhn gegen Dr. Hans-Joachim Hofstetter und es kam die etwas ungewöhnliche Zugfolge 1. e4, c6 2. d4, d5 3. Sc3, b5!? 4. exd5, b4 5. Se4, Dxd5 aufs Brett. Es spielte Klaus Link gegen Michael Pfarr und Klaus wählte gegen Michaels Sizilianisch einen amüsanten symmetrischen Aufbau mit Ld3, Le3, Se2, Sd2 und Bauern auf c3, d4, e4 und f3. Ich bummelte zum Hauptturnier, welches zwischen M1 und M2 stattfand. Keine extremen Laufwege in diesem Jahr. Ich sah Fritz Scholz, wie er einmal mehr die spanische Eröffnung (seine Leiberöffnung) gegen Timo Helm aus Bad Königshofen wählte. Lächelnd stellte ich fest, dass Fritz schon jetzt mit der Notation im Nachzug war. Manuel Simon spielte im anderen Hauptturnier gegen Michael Heinrich ebenfalls gegen eine Sizilianische Eröffnung. Schließlich erreichte ich die Bretter der M2. Hier spielte am ersten Brett Thomas Vogt gegen Pius Hegel und es war eine Mittelspielstellung aus der slawischen Eröffnung hervorgegangen. Jonathan Simon wählte das Wolga-Benkö Gambit gegen Werner Klüber (Prichsenstadt). Dann bummelte ich auch zum Seniorenturnier, welches auf einer Art Empore ausgetragen wurde – erstmalig seit vielen Jahren wieder in Unterfranken und dem Einsatz des 1. Vorsitzenden von Gerolzhofen, Heinz Krahn, zu verdanken, der leider nur zwei Jahre nach dieser Meisterschaft verstorben ist. Allgemein sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass die Ausrichtung der gesamten Meisterschaft, welche nur 2 Jahre nach Gründung des Vereins stattfand, nur durch das große Engagement des Herrn Krahn erst möglich geworden ist.

So flossen die Stunden dahin. Jürgen Müller und seine Assistentin schritten immer mal wieder durch die Reihen. Die Spieler gebeugt über ihre Bretter. Der eigentlich tobende Kampf zwischen den Spielern erschließt sich dem Beobachter nie in dieser Tiefe und wenn, dann nur annäherungsweise und nur durch tiefe Analyse [ich glaube, ich habe das mal irgendwo gelesen, bei Jussupow eventuell]. Ich sah wie Manuel Simon in folgender Stellung zu einem etwas abenteuerlichen Manöver ansetzte.

Simon, Manuel – Heinrich, Michael

Manuel spielte hier die Umgruppierung 18. Sb1??, was den Doppelangriff 18. …, Da5 erlaubt hätte. Stattdessen spielte Heinrich 18. …, d4?

Etwas verwirrt von dem Gesehenen schritt ich schnell weiter. Ah, und hier wurden Hände geschüttelt! Die Partie Werner Klüber gegen Jonathan Simon war offenbar gerade friedlich geendet. Ich weiß noch, wie ich mich später, nach der Runde, in den Analyseraum begab [es ging eine Treppe nach unten, aber bei Gott an mehr kann ich mich nicht mehr erinnern] und dort gerade Jonathan zusammen mit Michael Pfarr seine Partie analysierte und Michael schmunzelnd meinte: „Wie, erst so einen Zug spielen [er meinte h5], und dann remis anbieten?!“.

Klüber, Werner – Simon, Jonathan

21. h5 kam zusammen mit einem Remisangebot.

In der Tat, die Stellung schien gerade erst so richtig Fahrt aufzunehmen…

Indessen war Fritz den taktischen Fähigkeiten Timo Helms unterlegen und verlor seine Partie. Ich bummelte zur M1 und sah, dass Michael Pfarr im Mittelspiel zentrale Bauern auf e5 und d5 installieren konnte, die sich, ich hab es mitgezählt und später nachvollzogen, sage und schreibe 23 Züge lang nicht von diesen Feldern wegbewegten.

Link, Klaus – Pfarr, Michael

Die zentralen Bauern werden noch ungewohnt lange auf ihren zentralen Feldern stehen bleiben.

Die Partie mündete schließlich in einem Turmendspiel mit Bauern mehr für Klaus, aber Michael hatte seine Turmendspiele geübt und hielt souverän das Gleichgewicht. In der Partie Gabriel Seuffert gegen Udo Seidens (M1, Brett 1) war ein interessanter Moment! Seidens hatte gerade den Zug 42. …, Tf5? gespielt (es war also nach der Zeitkontrolle, siehe Diagramm). Offenbar hat Schwarz einen Bauern mehr und seine Dame ist schon ins feindliche Lager eingedrungen. Dennoch, aus dieser Stellung heraus hat Weiß einen kniffligen Zug, der ihn zumindest wieder zurück ins Spiel bringt (heutige Engine Stockfish 11 gibt 0.00). Können Sie ihn finden?

Seuffert, Gabriel – Seidens, Udo

Nach 41. …, Tf5 scheint Schwarz einen Bauern mehr und alles unter Kontrolle zu haben, doch der Schein trügt. Wie kann Weiß fortsetzen?

Der rettende Zug ist 42. Sh5!!

Seuffert, Gabriel – Seidens, Udo (Variante)

42. Sh5!! sichert dynamischen Ausgleich.

Die entstehenden Varianten sind ziemlich kompliziert. Ich habe sie deshalb am Ende meiner Aufzeichnungen nochmals angehängt. Die Hauptidee besteht darin, dasss nach 42…gxh5 Weiß nach 43. Txf5, exf5 44. g6!, h6 45. g7!, Le7 den Zug 46. Dg6! hat (auch die anderen Züge waren erzwungen). Jetzt droht vernichtend 47. Dxe8+ und Schwarz muss sich mit dem Dauerschach nach 46…Df4+! zufrieden geben.

Seuffert, Gabriel – Seidens, Udo (Variante)

Nun gibt Schwarz das rettende Dauerschach.

Und auch nach dem forcierten 42…Txf2 43. Dxf2, gxh5 44. g6, hxg6 45. Txg6+, Lg7 46. Txg7, Kxg7 47. Df6+, Kh7 48. Df7+ ist es diemal Weiß der Dauerschach gibt.

Seuffert, Gabriel – Seidens, Udo (Variante)

In dieser Variante ist es Weiß, der das Dauerschach gibt.

In der Partie folgte übrigens 42. Se2? und Weiß verlor bald.

Wie ich bereits oben angedeutet habe, begab ich mich nach Beendigung aller Partien in den Analyseraum und analysierte ein bisschen mit den Mömbriser Spielern. Der Nachmittag war dann ja spielfrei. Die Bretter waren schon für die morgige Runde vorbereitet worden. Jetzt standen die zwei anstrengsten Tage an, da jeweils eine Doppelrunde gespielt wurde. Mittags erkundete ich ein bisschen die schöne Altstadt Gerolzhofens, Abends fand noch ein Einzel-Blitzturnier statt (die unterfränkische Blitzeinzelmeisterschaft fand in diesem Jahr wieder im Rahmen des KUS im Rhön-Park Hotel statt). Die mittlerweile tradionellen Pokerrunden wurden erst später ins Leben gerufen und waren zu dieser Zeit (auch im Rahmen des KUS) noch im Aufblühen begriffen. Abends bummelte ich alleine ein bisschen durch die Altstadt, traf hier und dort den ein oder anderen Schachspieler auf der Suche nach einem Lokal. Besonders in Erinnerung blieb mir mein Zusammentreffen mit den Gebrüdern Simon aus Mömbris. Diese suchten offenbar eine Pizzaria, der Weg war ihnen vorher beschrieben worden, aber sie hatten sich hoffnungslos verirrt und glaubten in eine völlig falsche Richtung gelaufen zu sein. Ich ging schließlich selbst etwas essen und zu späterer Stunde zurück in die Pension. Da traf ich auf den Gängen erneut die Gebrüder Simon [sie hatten die Pizzaria dann doch noch gefunden] zusammen mit Michael Pfarr. Sie hatten sich in die gleiche Unterkunft wie ich eingemietet! Wir kamen ins Gespräch und es ergab sich, dass wir nochmals zusammen über die Partien vom Tag schauten, diesmal mit Hilfe der Engine. Eine Anekdote zum Schluss. Michael Pfarr hatte ja am Morgen gegen Klaus gespielt, welcher einen c3-Sizilianer spielte. Pfarr wählte daraufhin die etwas unübliche Zugfolge 1. e4, c5 2. c3, d6 3. d4, Sf6!?. Er zeigte uns hier eine lustige Variante, wenn Weiß die Herausforderng annimmt und statt 4. f3 (wie Klaus Link) 4. dxc5 spielt, in der Schwarz mit seinem Springer den Turm h1 gewinnt und sich das ganze restliche Spiel darum dreht, ob Schwarz den Springer auf h1 schlagen kann oder nicht. Michael aber sagte lachend: „Ach was solls, das kommt sowieso nicht aufs Brett!“ und klappte den Laptop zu.

PS: Ich hänge auch noch die Partie Kuhn, Norbert – Pfarr, Michael vom nächsten Tag an 😉

Anmerkungen:

  • Der anonyme Erzähler ist natürlich fiktiv erdacht. Jegliche Ähnlichkeit mit anderen Personen ist rein zufällig.
  • Anders als ich in meinem Tagebuch schreibt der Erzähler aus heutiger Sicht und erinnert sich an den Tag zurück.
  • Ich glaube Michael hat diese Variante seitdem nicht mehr auf dem Brett gehabt.
  • Werner Klüber schaffte es tatsächlich seine ersten 8 Partien alle zu remisieren, erst in Runde Nr. 9 verlor er gegen Dieter Krenz.
  • Ich selbst stieg ab. Florian Amtmann gewann mit 7 aus 9 souverän die M2.
  • Michael stieg eigentlich aus der M1 ab, aber wie im Bericht zur UEM 2009 (Obernau) bereits angedeutet, spielte er seitdem nicht mehr in der M2. Nach Gerolzhofen wurde Michael nämlich erstmal Bezirksspielleiter und war in der Folge in Schweinfurt und Würzburg als Schiedsrichter und nicht als Spieler tätig.
  • Kann mir jemand sagen um was für ein Gebäude es sich handelte?
  • Die angegeben Analysen wurden mit Stockfish 11 erstellt. Für deren Richtigkeit und die angegebenen Stellungsbewertungen übernehme ich allerdings keine Gewähr.

Text und Diagramme: Jonathan Simon

 

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